Transphobie-Vorwürfe am Institut für Philosophie der Uni Leipzig
Studierende der Universität befürchten, dass ein Seminar des Wintersemesters transfeindliche Inhalte vermitteln wird. Die Uni schlägt einen fachlichen Austausch zwischen Dozent und Studierenden vor.
Zum Start des Wintersemesters erheben Philosophie-Studierende der Universität Leipzig schwere Vorwürfe gegen die Konzeption einer geplanten Lehrveranstaltung. Das umstrittene Seminar trägt den Titel „Historisch-genetische Theorie der Geschlechterbeziehung: Subjekt – Identität – Liebe“ und wird in diesem Semester im Vertiefungsmodul „Praktische Philosophie“ für Bachelor-Studierende angeboten. Der Privatdozent Javier Álvarez-Vázquez soll die Veranstaltung halten.
Mehrere Studierende bezeichnen den Beschreibungstext und die Literaturliste des geplanten Seminars als transfeindlich und unwissenschaftlich. Sie haben sich mit ihrer Kritik an die luhze-Redaktion gewandt. Die Gruppe besteht aus einer Handvoll Studierenden, die sich selbst als „einen bunten Mix aus Studierenden der Philosophie und anderer Geisteswissenschaften“ bezeichnen, einige von ihnen sind queer. Sie möchten vorerst anonym bleiben, da sie Anfeindungen fürchten.
Vorwurf des transfeindlichen Gedankenguts
Einerseits kritisieren die Studierenden die Formulierungen im Seminareinleitungstext, der im Vorlesungsverzeichnis nachzulesen ist. Dort heißt es zum Beispiel, dass es „in Zeiten einer geschlechtlichen ‚Machbarkeitsfaszination‘ seitens der Medizin sowie der Pharmaindustrie“ unsicher geworden sei, nach den „anthropologischen Grundlagen der Geschlechterverhältnisse“ zu fragen. Das Seminar will sich laut Beschreibung „kritisch mit der Klärung der Grundlagen der Geschlechterbeziehung“ auseinandersetzen.
„Warum haben Menschen in allen Gesellschaften gesucht, ihre Leben in der Körperzone eines anderen zu führen?“, heißt es weiter im Beschreibungstext. „Das ist die Frage, die wir im Seminar zu beantworten suchen.“ Unter anderem sollen folgende Themen besprochen werden: „der Bildungsprozess des Subjekts, die historisch-genetische Theorie der Geschlechterbeziehung, die Universalität der Geschlechterverhältnisse, der Mythos der Promiskuität, die prozessuale Logik der Sexualität und die Aporien des Transzendentalismus in der Philosophie Fichtes“.
Dass der Dozent Javier Álvarez-Vázquez in der geplanten Lehrveranstaltung die Beziehungen der Geschlechter kritisch beleuchten will, bezweifeln die Studierenden. Er bediene sich der aus ihrer Sicht transfeindlichen Formulierungen des Philosophen Christoph Türcke – dessen Text Grundlage des Seminars ist – ohne kritische Einordnung. Die im Seminarbeschreibungstext gewählte Formulierung „Machbarkeitsfaszination“ erinnere beispielsweise an den von Christoph Türcke verwendeten Begriff „Machbarkeitswahn“.
„Die unkritische Übernahme von Türckes Theorie ist für uns ein starker Hinweis, dass transfeindliches Gedankengut bei Álvarez-Vázquez zu finden ist“, sagt eine Philosophie-Studentin der besagten Gruppe. Sie ist selbst trans und somit persönlich von der Thematik betroffen. Der Vorwurf gelte zwar primär Álvarez-Vázquez, doch zu bedenken sei, dass „irgendwer im Institut das abgenickt haben muss“. Sie vermutet ein systematisches Versagen in der „Awarenessstruktur“ des Instituts für Philosophie.
Philosoph Türcke seit Jahren mit Transphobie-Vorwürfen konfrontiert
In seinem kürzlich erschienenen Buch „Natur und Gender: Kritik eines Machbarkeitswahns“ prangert Christoph Türcke an, dass sich der moderne Mensch durch das Internet und die ständige Nutzung des Smartphones zu einem „Cyborgwesen“ verwandle. Die ständige Reizüberflutung und Selbstdarstellung in sozialen Medien führe dazu, dass sich die Menschen nicht mehr mit der Komplexität der Welt und der eigenen Komplexität auseinandersetzen würden.
Als eine Konsequenz dieses Unvermögens führt Türcke unter anderem die Existenz von transidenten Menschen an. Wenn sie sich nicht mehr wohl im eigenen Körper fühlten, so Türcke, würden die Menschen lieber durch chirurgische Eingriffe und Hormonpräparate ihr physisches Ich verändern, anstatt mittels Verhaltensänderungen und Therapien zu versuchen, Körper und Psyche in Einklang zu bringen. In einem FAZ-Kommentar zum geplanten Selbstbestimmungsgesetz, das das Transsexuellengesetz ablösen soll, schrieb Türcke vor Kurzem, dass das „Ich“ eine „Balanceleistung“ sei, die aus dem Körper allmählich hervorwachse.
„Natur und Gender: Kritik eines Machbarkeitswahns“ ist eines der vier Bücher, auf dessen Grundlage das Seminar konzipiert ist. Türckes Ausführungen zum Thema Transidentität sind seit Jahren umstritten. Nach der Veröffentlichung von „Natur und Gender“ sah sich der Beck-Verlag auf seinen Social-Media-Kanälen mit zahlreichen Transphobie-Vorwürfen konfrontiert. „Wieso unterstützt ihr als Verlag die Diskriminierung von Menschen, die trans sind?“, fragte etwa eine Userin. Später entschuldigte sich der Verlag für die „unsensible Gestaltung“ seines Instagram-Beitrags zu Türckes Buch. Den Vorwurf der Transfeindlichkeit wies Beck zurück.
Dass Türckes Buch neben zwei Werken des Soziologen Günter Dux und einem Werk des Dozenten selbst nun die Literaturliste des Seminars komplettiert, ist für die Philosophie-Studierenden ein Zeichen von Unwissenschaftlichkeit. Seinem im Seminarbeschreibungstext formulierten Anspruch, ein möglichst akkurates Bild der „anthropologischen Grundlage der Geschlechterverhältnisse“ zu erarbeiten, kann Álvarez-Vázquez auf Grundlage dieser Referenzen nicht gerecht werden, befürchten die Studierenden. Günter Dux hat sich im Gegenteil zu Christoph Türcke zum Thema Transgender bisher nicht explizit geäußert.
Die Formulierungen im Beschreibungstext des Seminars sind nach Sicht der Studierenden außerdem problematisch, da sie sich Verschwörungsnarrativen annäherten – beispielsweise an die Erzählung, dass die Pharmaindustrie eine „Epidemie von verwirrten jungen Leuten, die sich als trans identifizieren,“ hervorrufe. Oft taucht dieses antisemitisch angehauchte Narrativ, das eine Steuerung der Menschheit durch eine Elite mit bösen Absichten beinhaltet, in rechten Diskursen auf.
Kritik an Identität der ausgewählten Autoren
Neben den Formulierungen im Seminarbeschreibungstext kritisieren die Studierenden die Auswahl der Autoren für die Literatur der Lehrveranstaltung. Ein Seminar zum Thema Gender inhaltlich auf Texte von drei Cis-Männern aufzubauen – einer davon der Dozent selbst – sei „bezeichnend“ für die Herangehensweise des Dozenten. „Jegliche genderqueere Erfahrung und sogar cis-weibliche Perspektiven werden umschifft“, sagt die anonyme Philosophie-Studentin.
Die Autorenauswahl lege die Vermutung nahe, dass Álvarez-Vázquez keine Literatur gesucht habe, die seiner im Einleitungstext geschilderten These einer „modernen Machbarkeitsfaszination“ widersprechen könnte. „Vielmehr zeigt sich hier ein gewaltiger Confirmation Bias, um sehr wahrscheinlich die eigene transfeindliche Meinung zu untermauern.“ Die Literaturauswahl sei nicht repräsentativ, wissenschaftlich minderwertig und peinlich.
Allein der Beschreibungstext des Seminars im Vorlesungsverzeichnis belege die „Unfähigkeit von Álvarez-Vázquez, mit wissenschaftlichen Fakten zu arbeiten“. Einmal mehr sehen die Studierenden die transfeindlichen Positionen des Dozenten durch die Tatsache bestätigt, dass er einerseits angibt, die historischen Grundlagen der modernen Geschlechterverhältnisse erkunden zu wollen, andererseits aber suggeriere, Trans-Sein sei etwas Neues.
Dozent für Stellungnahme nicht zu erreichen
Der Dozent Javier Álvarez-Vázquez war für eine Stellungnahme zu den Vorwürfen nicht zu erreichen. Auch nach mehrmaligem Kontaktieren über einen längeren Zeitraum mit Hinweis auf die Absicht einer Berichterstattung reagierte er nicht auf die Anfragen von luhze. Auf der Universitätswebsite ist lediglich die Mailadresse des Dozenten angegeben, Sprechzeiten sind ebenfalls über diese Adresse zu vereinbaren. Das Institut konnte auf Nachfrage keine andere Form der Kontaktmöglichkeit des Privatdozenten weitergeben.
Die Universität tut sich mit einer Positionierung zur Konzeption des geplanten Seminars schwer, was angesichts der verhärteten Fronten in der öffentlichen Debatte zum Thema Transgender nicht verwundert. Die für Diskriminierungsvorwürfe zuständige Gleichstellungsbeauftragte der Fakultät, Judith Kretzschmar, verweist an die Stabsstelle für Chancengleichheit. Diese wiederum lehnt eine direkte Anfrage ab und verweist an die Pressestelle der Universität. Georg Teichert, der Leiter der Stabsstelle Chancengleichheit, antwortet auf eine direkte Mail an ihn nicht.
Die Pressestelle äußert sich schließlich nicht inhaltlich zu den Vorwürfen mit dem Verweis darauf, dass eine fachliche Auseinandersetzung mit Lehrveranstaltungen per se weder ihre Aufgabe noch die der Stabsstelle für Chancengleichheit sei, denn es gelte die Freiheit von Forschung und Lehre.
Die Universität empfiehlt ein Gespräch zwischen den Studierenden und dem Dozenten, zu Fachfragen könnten gegebenenfalls weitere Fakultätsmitarbeiter*innen einbezogen werden. Pressesprecher Ulf Walther bedauert, dass die Studierenden anhand einer Beschreibung im Vorlesungsverzeichnis öffentlich Kritik üben, ohne die Diskussion mit dem Dozenten gesucht zu haben. Walther weist darauf hin, dass kritische inhaltliche Auseinandersetzungen im Seminar selbst stattfinden könnten. „Auch dazu sind universitäre Lehrveranstaltungen da.“
„Es gehört zur Freiheit von Forschung und Lehre, auch inhaltlich umstrittene Inhalte anzubieten und fachlich zu diskutieren, denn ein wesentlicher Bestandteil von Wissenschaft ist der Diskurs,“ sagt der Pressesprecher.
Studentin: „Die Uni versagt“
Laut der Philosophie-Studentin zeigt die Reaktion der Universität, dass den verantwortlichen Stellen entweder die Expertise oder die Kapazitäten fehlen, den Studierenden ein diskriminierungsfreies Studium zu ermöglichen. „Dabei ist das deren Job.“ Den Vorschlag der Universität, mit dem Dozenten in einen wissenschaftlichen Diskurs zu treten, lehnt die Studentin ab, bezeichnet ihn als „vermessen“. Und zwar vor dem Hintergrund, dass die Seminarbeschreibung ihrer Ansicht nach bereits belegt, dass es nicht wirklich um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung gehe.
„Runtergebrochen soll ich laut Uni mit dem Dozenten jetzt darüber diskutieren, ob ich als trans* Frau als Mensch oder als Machbarkeitswahn wahrgenommen werden darf“, sagt die Studentin. Die Diskussion gehe ihr als Betroffene persönlich nahe. „Anstatt Verantwortung zu übernehmen, schickt man uns als alleingelassene Soldaten ins Feld, um ohne Unterstützung für diskriminierungsfreie Räume zu kämpfen.“
Zudem negiere die Universität mit ihrer Reaktion das Machtgefälle hinter der Debatte – auf der einen Seite der promovierte Dozent ohne persönlichen Bezug zur Thematik, auf der anderen Seite die persönlich betroffene Studentin. „Es ist peinlich, dass die Universität das nicht versteht.“
Seminar startet diese Woche
Der Dozent des Seminars, Javier Álvarez-Vázquez, lehrt seit 2020 an der Universität Leipzig. Zuvor hat er unter anderem an der Universität Heidelberg und an der University of Puerto Rico in den USA gelehrt. Álvarez-Vázquez hat an der Universität Freiburg zum Thema „Enarrativity: The Cognition of Explicative Thinking“ promoviert, beeinflusst von Günter Dux’ Kulturtheorie. Álvarez-Vázquez beschäftigt sich laut der Website der Universität vorrangig mit der menschlichen Wahrnehmung von „erklärendem Denken“.
Seine Lehrveranstaltung „Historisch-genetische Theorie der Geschlechterbeziehung: Subjekt – Identität – Liebe“ soll diesen Mittwoch (12. Oktober) an der Universität Leipzig starten.
Foto: Luise Mosig
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