Wilder Poppunk
„Luna Luna“ ist wie ein Drogentrip für Nüchterne. Schrill, wild und mit Hang zum Kitsch, der beabsichtigt ist, versetzt die Inszenierung in Angst, Schrecken und Schlagerfreude.
Das Langgedicht „Luna Luna“ braucht die große Bühne. Es geht um große Gefühle. Die musical-montagehafte Inszenierung bietet eine wilde Mischung aus Coming-of-Age, Auseinandersetzung mit den eigenen Dämonen und Alice im Wunderland. Am Ende habe ich spannende, berührende, witzige, kitschige und traurige Momente erlebt. Und den Überblick verloren, was paradoxerweise manchmal zu Langeweile führte. Die Perspektive eines Jurastudierenden, ich liebe die Ordnung.
Die Handlung zerfällt in Einzelszenen, die durch die Hauptfigur Luna, die gemeinsame Ästhetik, sowie wiederkehrende Charaktere zur Einheit finden: Rückblenden auf unglückliche Liebeserlebnisse, Gespräche mit der Mutter, ein unfassbar langer Wutschrei. Letztlich geht es um Lunas Innenwelt. Sie fliegt durchs All, dann sind die Charaktere um sie herum plötzlich Figuren in einem Puppentheater, alles ist erfüllt von der Musik, die sie hört. Alphaville, Bon Iver, Portishead und Shakespears Sister. Pathos.
Die Leistung, die Hauptdarstellerin Lisa-Katrina Mayer als Luna abliefert, ist übermenschlich. Sie tanzt, singt, brüllt, sie ist ganz Körper und Rolle. Luna wird durch sie lebendig und erfahrbar.
Manchmal erinnert das Ganze an Nina Hagen plus schwerelose Tanzmagie. Allein Lisa-Katrina Mayers Auftritt, der den Schwerpunkt des Stücks ausmacht, lohnt den Eintritt doppelt und dreifach. Es gibt eine Szene, in der sie sich wie eine Besessene windet und aus diesen Bewegungen eine Tanzchoreografie formt. Ich hatte Tränen in den Augen. Dass reine Körpersprache so viel aussagen kann, war wie eine Offenbarung.
Ich bin eher konventionelle Formen gewohnt, ob im Musical oder im Sprechtheater. Mehr dramatische Struktur hätte ich mir gewünscht – vielleicht hab ich sie auch schlicht nicht erkannt, obwohl sie vorhanden war. Vielleicht darf und kann ich auch meine Sehgewohnheiten ändern. Vielleicht hab ich es auch schon getan.
Der Sheitan ist ein weiterer Höhepunkt der Inszenierung. Dieser orange Muskelmann, dessen Gesicht unter einer Maske verborgen ist. Er ist ein Teil von Lunas Innenwelt. Ein witziges Bild für den inneren Kritiker, fast niedlich sieht er aus. Er geht wie ein Roboter. Wieder sagt die Bewegungssprache alles. Dieser Typ ist ganz kontrolliert. Er geht präzise vor, hat seine eigene Ästhetik, aber er ist auch unmenschlich. „Sheitan“ bedeutet auf Arabisch „Teufel“.
„Ich wollte mich in den Kitsch trauen“, schreibt Autorin Maren Kames in der Publikumsbroschüre zur Inszenierung, die nach dem aufregenden Abend nochmal eine Reflexionsmöglichkeit bietet. Jede Anleihe an Schlager- und Popästhetik geschieht in „Luna Luna“ mit Kalkül. Und das Stück nimmt sich gar nicht ernst genug, um mit seinen Übertreibungen zu nerven. Einmal wird Helene Fischers „Atemlos“ ironisch persifliert. „Guckt mal, so meinen wir das nicht, so oberflächlich sind wir nicht“ – das könnte die Botschaft sein.
Der Bruch der Inszenierung mit gewohnten Konventionen hat etwas Befreiendes. Maren Kames, die für „Luna Luna“ auf der Leipziger Buchmesse 2020 im Bereich Belletristik preisnominiert war, hat Kreatives Schreiben in Hildesheim studiert. Es dürfte ihr grundsätzlich leichtfallen, etwas Konventionelles zu erschaffen, aber sie wagt sich in die Formen, die früher von sogenannten Literaturpäpsten und ideologischen Theaterkritikern (Gendern verbietet sich hier, das waren Cis-Männer) verrissen wurden. Hier die Hochkultur, Goethe und Schiller, dort die Poesie der „einfachen Leute“. Ich bin stolz auf jeden Rest Einfachheit, den mir die Universität noch nicht wegakademisiert hat. Meine eigenen Vorstellungen von Lyrik sind nicht von Hölderlin und Shakespeare geprägt, sondern von den Songtexten meiner Lieblingsbands. Diese Entwicklung, die über mich als Individuum hinausgehen könnte, nimmt Maren Kames auf. Das ist wohltuend.
Zum Abschluss noch ein dickes Lob an die übrige Besetzung. Die gemeinsam gesungenen Liedtexte, witzige Dialoge mit dem Großvater, Szenen, die in burlesquer Form an Tim Burtons „Alice im Wunderland“ erinnern, all das funktioniert nur dank der durchweg grandiosen Darsteller*innen. Besonders hervorzuheben ist Christoph Müller, der Lunas Mutter spielt.
Ja, das Ganze ist ziemlich chaotisch. Und die Ästhetik ist nicht die Meine. Aber für den Grundgedanken des Stücks würde ich meine Hand ins Feuer legen. Und Lisa-Katrina Mayer als Luna hat mir eine neue Welt gezeigt, dafür bin ich voller Bewunderung und Dankbarkeit.
Geht hin!
„Luna Luna“ läuft noch am 16. Oktober, 6. November und 16. November jeweils ab 19:30 Uhr im Schauspiel Leipzig.
Foto: Rolf Arnold
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.