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  • Transphobie-Vorwürfe an der Uni Leipzig münden im Protest

    Am 12. Oktober kam es zu einem Protest seitens Studierender gegen den geplanten Inhalt eines Philosophie-Seminars. Motivation ist eine als transfeindlich aufgefasste Literatur.

    Am Mittwoch, dem 12. Oktober 2022, versammelten sich Studierende der Universität Leipzig vor einem Hörsaal am Campus Augustusplatz, um gegen das Seminar „Historisch-genetische Theorie der Geschlechterbeziehung: Subjekt – Identität – Liebe“ unter der Leitung des Privatdozenten Javier Álvarez-Vázquez zu protestieren. Bei der Lehrveranstaltung handelt es sich um einen Bachelorkurs des vertiefenden Moduls „Praktische Philosophie“ im Studiengang Philosophie.

    Die Protestierenden bezeichnen die Literaturliste des geplanten Kurses als transfeindlich und wissenschaftlich unfundiert. Weiterhin kritisieren sie die Beschreibung des Kurses im Vorlesungsverzeichnis und eine fehlende Kontrolle der Lehre seitens des Instituts. Nachzulesen im luhze-Artikel Transphobie-Vorwürfe am Institut für Philosophie der Uni Leipzig. Um ihrer Meinung Gewichtung zu verleihen, entschieden sie sich zum Protest im Seminar.

    Die Konfrontation

    Um 15 Uhr versammelten sich etwa 30 Personen vor dem Hörsaal 14, darunter die protestierenden Studierenden sowie Kommiliton*innen, die über den geplanten Protest nicht informiert waren. Auch mitprotestierende Studierende anderer Studiengänge und Personen der Presse waren vor Ort. Weiterhin war eine wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Philosophie, Bianca Ancillotti, anwesend.

    Vor der Tür verteilte die Protestgruppe zwei Flugblätter: eines mit einem Transkript der geplanten Rede und eines mit einer ausgewählten Literaturliste. Diese solle als Vorschlag für eine Alternative zu Álvarez-Vázquez′ vorgeschlagener Lektüre im Seminar dienen.

    Eine Frau positionierte sich hinter dem Pult im Hörsaal und kündigte die Rede der Gruppe an, was Álvarez-Vázquez in Form von Handbewegungen und Unterbrechungen zu unterbinden versuchte. Anschließend gesellte sich der Rest der Gruppe zu ihr.

    Eine Philosophie-Studentin von ihnen, Valeria, die sich als trans* identifiziert, begann die Rede mit dem Titel „Wissenschaftsfreiheit und das Problem der Demagogie“ vorzulesen, begleitet von weiteren Unterbrechungsversuchen Álvarez-Vázquez´. Während fortlaufender Rede forderte er unter anderem die Protestierenden auf, das Seminar zu verlassen und versuchte eine laufende Videoaufnahme zu verbieten.

    Schließlich entzog er sich der Situation und bezeichnete beim Verlassen des Hörsaals Valeria als „Frau oder Herr“. Wütende Ausrufe vieler Studierenden wurde dadurch ausgelöst. Er solle zuhören, statt zu unterbrechen, lauteten die Forderungen. Währenddessen schrieb eine Person der Protestgruppe „Queerfeindlichkeit tötet“ an die Tafel.

    Die Rede

    Valeria führte die Ansprache unbeirrt fort. In dieser befasst sich die Gruppe Studierender insbesondere mit der kritischen Auseinandersetzung des Buches „Natur und Gender“ von Christoph Türcke, das Bestandteil der Literaturliste des Seminars ist. Sie bezeichnen es unter anderem als „queerfeindlichen Verschwörungsmythos“, der nicht als wissenschaftlich fundierter Text gelten dürfe.

    Es vermittle unbelegt den verschwörungstheoretischen Standpunkt, dass „Transidentitäten Produkt einer Verschwörung der Pharmaindustrie und der Nutzung von Smartphones“ seien und dass Betroffene durch diese Reizüberflutung keine Therapie aufsuchen würden, sondern „in fremde Körper fliehen“ würden. „Geschlechtsangleichende Operationen werden als ‚Machbarkeitswahn′ diffamiert“, so die Studierenden, die diesen spezifischen Begriff Türckes ablehnen.

    In ihrer weiteren Argumentationskette bauen sie eine Brücke zwischen Türcke und ihrer Kritik an der Demagogie. Ihrer Auffassung nach machen sich Demagog*innen die Freiheit der Wissenschaft zu eigen, um Verschwörungsmythen zu verbreiten. Dies entziehe diskriminierten Betroffenen die Möglichkeit, freie Wissenschaft auszuüben.

    Ihre Kritik bezieht sich auch auf die Universität, die ebenfalls den Begriff der Freiheit auf die Lehre adaptiere, allerdings mit dem Zweck, die Verantwortung von sich zu schieben. Freiheit der Lehre könne aber nicht als Freiheit von Verantwortung für die Lehre verstanden werden, so die Protestierenden. Sie fordern deshalb einen Eingriff.

    „Diese ‚Machbarkeitsfaszination′ hat mir das Leben gerettet“, sagte Valeria und forderte die anwesenden Studierenden auf, den Kurs nicht weiter zu besuchen und den Raum zu verlassen.

    Die Reaktionen…

    … des Professors Álvarez-Vázquez

    Vor Ort wollte der Dozent Álvarez-Vázquez nicht mit luhze sprechen. Er habe nichts zu rechtfertigen.
    Nach Abschluss der Rede führte er seinen Kurs mit den etwa elf übrigen Studierenden und der Assistentin des Instituts fort. Studierenden zufolge, die im Kurs verweilten, wollte er sich zunächst nicht zu dem Protest äußern. Nach direkter Anfrage einer Studentin entschloss er sich aber doch zur Stellungnahme.

    Im fortlaufenden Seminar kritisierte Álvarez-Vázquez den Protest sowohl auf einer wissenschaftlichen, politisch-gesellschaftlichen als auch persönlichen Ebene. Er verteidigte seine Arbeitsweise, indem er darauf hinwies, dass er den Begriff „Machbarkeitswahn“ von Türcke nicht für eigene Argumentationszwecke nutze, sondern stattdessen den selbst gewählten Terminus „Machbarkeitsfaszination“. Die Frage, ob er das Buch kritisch einordnen wolle, wollte er nicht beantworten. Ihm sei bewusst, dass das Buch kontrovers betrachtet werde, aber verwies auf die Meinungsfreiheit.

    Er sieht die Philosophie als eine Wissenschaft, in der jeder Mensch seine Meinung verkünden darf. Diese Freiheit sei die Grundlage der argumentativen Wissenschaft in einer kritischen Auseinandersetzung. Der stark kritisierte Türcke sei in seinen Augen ein Philosoph, der eine Theorie aufgestellt habe, der man auf einer weiteren argumentativen Ebene begegnen könne. Das Seminar kann laut Álvarez-Vázquez auf eine solche Kritik vorbereiten. Es sei ein Zeichen von Toleranz, verschiedenen Positionen in der Wissenschaft zuzuhören und darauf argumentieren zu können. Wer voreingenommen und prädestiniert sei, sich selbst beleidigt oder angegriffen zu fühlen, lese überall einen Angriff, erklärte er.

    Es sei ein „No-Go“ für ihn, die Universität und die Wissenschaft als einen politischen Ort zu sehen, an dem man Aktivismus austragen könne und bezeichnete die Gruppe als „Polizei der Gender Studies“.
    Er verteidigte weiterhin seine Person und wies die Vorwürfe der Transphobie und der Unwissenschaftlichkeit von sich. Er habe bereits trans*Menschen unterrichtet und sei der Erste, der diesen in einer Notlage helfen würde.

    Durch die laute Rede und die Aggression, welche er der Situation entnommen habe, habe er sich außerdem in einen instinktiven Widerstands- und Verteidigungsmodus versetzt gefühlt, was seine spontane Reaktion erkläre.

    … der Protestierenden

    Nach Verlassen des Hörsaals hielten die Protestierenden eine weitere spontane Ansprache auf dem Flur des Universitätsgebäudes. Sichtlich aufgebracht von der eben erfahrenen Situation, erklärte Valeria im Interview, dass sie mit so einer Reaktion von Álvarez-Vázquez nicht gerechnet hätte. Das Werk, das dieser anbietet, erfahre durch Rezipieren fälschlicherweise einen Raum in der Wissenschaft. „Ich möchte nicht in einem Seminar diskutieren, inwiefern ich eine ‚Machbarkeitsfaszination′ bin oder nicht“, sagt sie. Deshalb sei das Weiterbestehen der Literatur für sie indiskutabel.

    Christoph Türcke ist in der Öffentlichkeit nicht unumstritten. Valeria verweist auf einen Online-Artikel von Deutschlandfunk Kultur. Dieser besagt, dass das Buch Stimmen der Betroffenen und aktuelle philosophische Literatur ignoriere. Türcke zeige sich nicht offen für eine moderne wissenschaftliche Auseinandersetzung.
    Die fehlende Kontrolle der Literatur am Institut bezeichnete die Gruppe weiterhin als „Systemversagen“.

    Die Gruppe möchte aufgrund der reellen Gefahr queerfeindlicher Anfeindungen und Morddrohungen anonym bleiben.

    … der wissenschaftlichen Mitarbeiterin des Instituts für Philosophie Bianca Ancillotti

    Bianca Ancillotti, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut, versuchte vor Ort in einem anschließenden Gespräch einen Teil der Protestierenden zu besänftigen und unterstützte zugleich den Anspruch des wissenschaftlichen Austausches, den Álvarez-Vázquez in seinem Seminar anstrebt.

    Eine protestierende Person empfinde es als wichtig, Literatur nicht zu verbieten. Stattdessen wünsche sie sich aber eine Qualitätssicherung der Lehre.
    Auf die Frage hin, warum die Literatur nicht einer Korrektur seitens des Instituts unterzogen wurde, erwiderte Ancillotti, dass es sich um einen Privatdozenten handle, weshalb dessen Literaturverzeichnis nicht kontrolliert werde.

    Sie werde nun die Geschehnisse und die geäußerte Kritik an das Institut weitergeben, könne aber keine weiteren Schritte versprechen.

    Die Folgen

    Die Protestierenden kündigten einen Offenen Brief an. Sie fordern weiterhin den Boykott des Seminars und Workshops an der Universität zur Aufklärung gegen Transfeindlichkeit.

    Der Gleichstellungsbeauftragte der Universität Georg Teichert kam mittlerweile mit ihnen in Kontakt und schlug ein gemeinsames Gespräch vor. Weiterhin würde er auch ein Gespräch mit dem Dozenten suchen. Auf eine ausführliche Anfrage von luhze mit der Bitte um Positionierung hatte Teichert zuvor nicht reagiert, die ihm zugewiesene Stabsstelle Chancengleichheit hatte lediglich an die Pressestelle der Universität verwiesen. Auch auf die Frage, ob es an der Universität bestimmte Ablaufpläne bei Vorwürfen wie diesen gebe, antwortete Teichert nicht.

    Die Konferenz Sächsischer Studierendenschaften positionierte sich am Abend desselben Tages und solidarisierte sich mit den Studierenden. Sie fordert ebenfalls eine Absage des Seminars.
    Das Online-Medium Kreuzer veröffentlichte am Freitag ein Interview mit den protestierenden Studierenden. Álvarez-Vázquez wollte sich auch gegenüber diesem Medium nicht äußern, empfahl aber den protestierenden Studierenden über Kreuzer ein Interview des Professors Jordan B. Peterson. Dieser stand in der Vergangenheit ebenfalls wegen Transfeindlichkeit in Kritik.

    Professor Álvarez-Vázquez hoffe auf verbleibende, interessierende Studierende in seinem Seminar, wie er in seinem Kurs am Mittwoch berichtete.

    Die Vorgeschichte

    Eine Studentin wurde auf das von Álvarez-Vázquez im Wintersemester angebotene Seminar im Vorlesungsverzeichnis aufmerksam. Sie bemerkte unter der von ihm zur Verfügung gestellten Literatur ihres Erachtens nach transfeindliche und diskriminierende Inhalte und wies Kommiliton*innen darauf hin. Einige von ihnen sind queer. Eine Philosophie-Studentin der Gruppe suchte den Kontakt zu luhze, um die von ihnen kritisierte Transfeindlichkeit des Seminars in die Öffentlichkeit zu tragen. Der so entstandene Artikel thematisiert die umstrittene Literatur und setzt sich konkret mit den Vorwürfen auseinander. Er wurde am Vormittag des Protesttages publiziert.

    Foto: Luise Mosig

    – der Name wurde zum Schutz der Person geändert.

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