Ich fühlte mich wie gelähmt
luhze-Autor Jonas schreibt über seinen Umgang mit lähmendem Perfektionismus und über seinen Weg zu mehr Selbstakzeptanz.
Ich will endlich schreiben, nur noch schreiben und diesen Druck loswerden. Ich will Protagonist*innen in fremde Bewusstseinszustände entführen, meine eigenen Erfahrungen poetisieren und auf wenige DINA4 Seiten verdichten. Doch ich schaffe es nicht und statt zu schreiben, weiche ich seit Stunden kunstvoll meinem Arbeitsplatz aus, wasche meine Wäsche, rauche zwei Zigaretten pro Spotify-Song und putze bis tief in die Nacht kreuz und quer durch meine WG. Ich verstecke mich vor mir selbst und meinen Ambitionen, bis mich jede Inspiration und jeder Eifer verlassen haben und ich weinend auf den Boden sacke. Mein innerer Kritiker, so nenne ich diesen Persönlichkeitsanteil, schreit mich währenddessen an.
„…Du hast es wieder nicht geschafft. Du bist das Letzte!
Du kannst nicht schreiben. Du konntest es nie. Sieh es doch ein, du…
Du kannst es nicht. Hör auf! Übrigens hörst du dich auch echt beschissen an. Verbrenn deine scheiß Texte und schmeiß deine Gitarre aus dem Fenster, du …“
Zusammenbrüche wie dieser standen für mich lange Zeit an der Tagesordnung. Damals war ich zerrissen zwischen dem Verlangen, mich kreativ auszudrücken und einem krankhaften, selbstzerstörerischen Perfektionismus, der mir das Leben zur Qual machte. Ich wollte mich durch „Kunst“ von meinen Fesseln befreien, doch fiel immer weiter in einen unaufhörlich rasenden Strudel aus Selbstsabotage, Prokrastination und Wahnsinn.
Obwohl ich mir dabei unfassbar wehleidig und blöd vorkam, sprach ich dieses Thema nach langem Zögern in meiner Therapie an. Es half mir enorm in der Therapie meine eigenen Maßstäbe und Glaubenssätze zu reflektieren, dennoch blieb mein innerer Kritiker noch sehr laut und wütend.
In diesem Frühjahr, als meine Selbstablehnung erneut einen Höhepunkt erreichte, begann ich aus einem Impuls heraus mit der Arbeit an dem Text, der in mir Grenzen zum Fallen brachte. Statt mich vor ihm zu verstecken, blickte ich meinem Dämon sehr tief in die Seele, unterhielt mich mit ihm und schrieb eine kurze Erzählung über ihn. Der Schreibprozess war hoch emotional, doch ich war fest entschlossen, dieses Mal nicht aufzugeben. Am Ende gelangte ich zu einer wichtigen Erkenntnis:
Mein innerer Kritiker ist nicht mein Feind. Er will mich nicht zerstören, sondern mich schützen!
Das klingt erstmal paradox, oder? Wovor sollen uns Perfektionismus und Selbstablehnung schützen? Die Antwort ist so nachvollziehbar und simpel, wie sie unbequem ist: Es hat biographische Ursachen.
Ich vermute, dass Menschen Menschen mit strengen und lauten Kritikern häufig einem invalidierendem Umfeld ausgesetzt waren, das es ihnen nicht (oder nicht genügend) ermöglichte die eigenen Gefühle adäquat zu äußern und einzuordnen. Vielleicht haben sie sogar die Erfahrung gemacht, dass es gefährlich sein kann gewissen Gefühle zu zeigen; beispielsweise, weil sie gemobbt wurden. Zum Selbstschutz bauen diese Menschen schon früh in ihrem Leben eine metaphorische Mauer zwischen sich und ihrem „wahren Ich“ auf. Zur Verteidigung dieser Mauer wird dann der innere Kritiker berufen. Wenn ich damals also Texte schreiben wollte, um mein Inneres nach außen zu bringen, dann sah mein Kritiker darin eine große Gefahr, die es unbedingt zu verhindern galt. Das ist die Quintessenz meiner Erzählung: Der Bösewicht meint es eigentlich nur gut.
Nach und nach lernte ich, meinen inneren Kritiker als einen Teil von mir zu akzeptieren und nicht mehr gegen ihn anzukämpfen. Dank meiner Therapie und der Arbeit an dem Text lähmen mich meine Selbstzweifel heute nicht mehr so sehr und ich kann mehr zu mir selbst stehen. Deshalb möchte ich zum Schluss von einer schönen Begegnung mit meinem inneren Kritiker erzählen.
Ich war mit einem Freund im Urlaub. Obwohl ich selbst nach wie vor wenig Respekt vor dem Ergebnis habe, spiele ich viel, meistens für mich alleine, Gitarre. Da ich keine Gitarre mithatte, aber Lust hatte, zu spielen, ging ich in einen Musikladen, um für eine halbe Stunde auf ein paar Gitarren zu klimpern, die so viel kosten wie mehrere Monatsmieten. Als ich dann vor dem Laden stand, bekam ich kalte Füße – mein innerer Kritiker meldete Bedenken an. „Was, wenn du dich blamierst? Geh weg von hier, schnell!“
Doch ich blieb, rauchte zwei Zigaretten, öffnete die Tür, begrüßte den Verkäufer und bat um Erlaubnis, ein wenig Gitarre zu spielen. Er hieß mich willkommen, führte mich zu den Verstärkern und stöpselte mich an. Die ersten Akkorde spielte ich zaghaft, aber ich ließ mich nicht aufhalten – auch nicht als andere Kund*innen den Laden betraten. Irgendwann bot der Musikladen-Dude mir einen Kaffee an, wir redeten noch eine Weile über Musik und verabschiedeten uns herzlich. Den Laden verließ ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht, während mein innerer Kritiker sich Notizen machte.
Fotos: Jonas Kilb
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