Mehr als „GNTM goes DDR“
„In einem Land, das es nicht mehr gibt“ erzählt von der Modewelt in der DDR, der offiziellen und der inoffiziellen. Bunt, melodramatisch und beruhend auf der Biografie von Regisseurin Aelrun Goette.
Vielleicht sind die Eingangsszene und die Schlussszene die schönsten des ganzen Films. Das Ende wird hier natürlich nicht verraten. Der Anfang: Ein idyllisches Vorstadthaus im Berlin des Jahres 1989, noch steht die Mauer. Laute Popmusik, Hauptprotagonistin Suzie (Marlen Burow) sitzt in einem alten Autowrack und liest, während ihre zwölfjährige Schwester Kerstin (Zoé Höche) durch den Garten tanzt.
Dann der negative Bruch, der noch öfter die scheinbare Traumkulisse zerstören wird: Auf dem Schulweg wird Suzie von Polizisten zuerst auf ihren Jeansrock angesprochen, der ja so gar nicht zu einem braven FDJ – Mädchen passt und dann entdecken die Beamten auch noch George Orwells „1984“ in ihrem Rucksack. Zur Strafe muss sie in einer Fabrik arbeiten – für den „Sozialismus“. Die Möglichkeit des Literaturstudiums ist damit zerstört. Nebenbei erfährt man, dass eine andere Person für den Besitz von „1984“ zwei Jahre ins Gefängnis musste.
Dann tritt „Coyote“ (David Schütter) auf den Plan. Der fotografiert Suzie ungefragt, während sie in der Straßenbahn sitzt und grinst ihr verschwörerisch zu. Ein paar Tage später hält sie eine Ausgabe der Modezeitschrift „Sibylle“ in der Hand, in der ein Bild von ihr abgedruckt ist. Ihre Schwester kommentiert das mit den Worten, die wahrscheinlich auch den Zuschauer*innen durch den Kopf gehen: „Genau, dich hat so ein Typ abgelichtet und jetzt bist du in der Sibylle.“ Jedoch entsprach das im Film dargestellte Vorgehen tatsächlich der damaligen Realität. Suzie nimmt Kontakt mit dem Magazin auf und bekommt tatsächlich die Möglichkeit, zu modeln. Allerdings muss sie weiterhin in der Fabrik arbeiten – ein Drahtseilakt. „Coyote“ kommt auf die spannende Idee, Suzie mit den anderen Arbeiterinnen ihrer Gruppe zu fotografieren. Auf diese Weise bekommen auch Menschen ein Gesicht, die nicht dem einengenden Schönheitsideal der „Sibylle“ entsprechen.
Neben „Coyote“ und der Magazinleiterin Elsa (Claudia Michelsen) lernt Suzie den exzentrischen Rudi kennen. Der wird von Sabin Tambrea verkörpert und erinnert äußerlich ein bisschen an David Bowie. Rudi arbeitet zwar offiziell für Elsa, hat aber nebenbei seine ganz eigenen Modeshootings, die er undergroundmäßig in seiner Berliner Altbauwohnung durchführt: Mitten im Raum steht eine Badewanne, alle posieren nackt, so richtig schön abgedreht – es geht nicht um pornografische Bilder, sonder um die Untergrabung der Prüderie. Allerdings ist Rudi homosexuell, als er sich eines Tages traut, im Brautkleid bei einem Walk vor hohen Regierungsfuntionären aufzutreten, hat das schlimme Folgen.
Der Film erzählt eine Coming-Of-Age-Geschichte, leider wirkt das Ganze manchmal etwas hektisch. In Zeiten von Netflix und Co. denke ich mir, dass man aus den 101 Minuten auch locker eine Serie hätte machen können. Es wäre so viel Stoff vorhanden, der nur anerzählt wird oder ganz außen vor bleibt: Die queere Szene in Ostberlin vor dem Mauerfall, Diskurse über Mode und Schönheitsideale, die Angst des Vaters, wegen des Verhaltens seiner Tochter ernsthafte Probleme zu bekommen, Berlin als Kulisse überhaupt, das alles hätte mehr Zeit verdient, was umso mehr schmerzt, weil die Filmemacher*innen es in Sachen Ästhetik und dramatischer Effekte wirklich drauf haben.
Die Darstellung der Liebesgeschichte zwischen Coyote und Suzie hat zu Beginn einen etwas negativen Eindruck bei mir hinterlassen. Auf den ersten Blick wirkt er wie der charismatische Held auf dem Motorrad, der Suzie aus dem Dornröschenschlaf weckt. Allerdings ist Suzie eine starke Frau, die für ihre Träume einsteht und ihren eigenen Weg geht. Zudem hat Coyote ganz „unmännlich“ den Militärdienst verweigert und konterkariert damit unreflektierte Männlichkeitsbilder. Rudi warnt Suzie sogar vor Coyote: „Der macht die Frauen unglücklich.“ Insofern werden Stereotype, die der Film auf den ersten Blick darstellt, hinterfragt. Und der autobiografische Hintergrund muss auch respektiert werden.
Manchmal wirkt die Darstellung der Modewelt etwas unreflektiert, aber im Nachhinein habe ich mir bewusst gemacht, dass sie eine Nische inmitten des reglementierten Lebens in der DDR war. Dadurch wird vielleicht das folgende etwas seltsam anmutende Zitat Suzies ein bisschen verständlicher: „Ich will keine Schriftstellerin mehr werden, weil ich mich nicht anpassen will. Ich will frei sein.“
Für wen lohnt sich der Film? Wäre er eine Serie, würde ich sagen, dass er durchweg für ein jugendliches Publikum geeignet wäre, weil dann das volle Themenspektrum ausgeschöpft werden könnte, das die Geschichte bietet. So, wie der Film im Kino ist, richtet er sich eher an Leute, die sich für Mode und ein bisschen für Geschichte interessieren und auf Berlin-Flair stehen. Aufgrund der grandios umgesetzten Bilder und der tollen Schauspieler*innen hatte ich bei einigen Szenen wirklich Gänsehaut. Insofern war es für mich schön, den Film gesehen zu haben – trotz mancher Schwächen.
Seit dem 6. Oktober 2022 im Kino.
Fotos: Peter Hartwig
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