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  • „Ich will nicht immer und ewig neun Jahre alt sein“

    Zum Universitätsstart reflektieren viele Studierende nochmal ihre Schulzeit. Passend dazu empfiehlt luhze-Autor Leen das Buch „Katzenauge“ von Margaret Atwood.

    Kinder können grausam sein, das ist sicherlich vielen schon aufgefallen. Auch in dem zeitgenössischen Roman „Katzenauge“ ist das ein großes Thema. Die Lesenden kehren an der Seite der Malerin Elaine für eine Ausstellung in ihrer Heimatstadt Toronto zurück. Damit gehen viele Erinnerungen an ihre Kindheit einher, in die wir durch Zeitsprünge einen Einblick erhalten.

    Die kleine Elaine verbringt ihre frühe Kindheit damit, mit ihrem Bruder und den Eltern im Auto durch Kanada zu reisen. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg macht auch ihnen zu schaffen und so hat ihr Vater, der eigentlich als Biologieprofessor tätig ist, keine Anstellung.

    Schließlich bezieht die Familie ein Haus in einer Neubausiedlung in Toronto, wo die beiden Kinder auch zum ersten Mal eine richtige Schule besuchen. Die siebenjährige Elaine hatte nie richtigen Kontakt zu gleichaltrigen Mädchen und ist froh, nach der langen Sehnsucht endlich Freundinnen gewinnen zu können. Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass so genannte Freundschaften manchmal gar nicht allzu ernst genommen werden. Die junge Protagonistin lernt die drei Mädchen Carol, Grace und Cordelia kennen. Zu Letzterer entwickelt sie mit der Zeit ein besonders verstricktes Verhältnis.

    Wir bekommen zwischendurch einen Einblick auf die Gegenwart und bemerken, wie stark ihre vergangene Schulzeit, und besonders die Freundschaft zu Cordelia, ihr Leben und auch ihre Beziehungen zu anderen Menschen heute noch beeinflusst. Die Frau scheint auf schwankenden Beinen zu stehen, fühlt sich dem Erwachsenenleben nicht gewachsen. Sätze wie: „[…] weil es mir nicht wie ein Leben scheint, mit dem ich je davon kommen könnte oder das ich je verdient hätte. Und noch etwas glaube ich: dass alle in meinem Alter erwachsen sind, während ich nur so tue, als ob“ haben mich sehr tief berührt.

    Den Tag lässt luhze-Autor Leen am liebsten mit einem Buch ausklingen. Foto: Leen Neumann

    Die falschen Hoffnungen der jungen Elaine auf eine Gruppenfreundschaft werden schamlos ausgenutzt. Zu Beginn glaubt sie noch, dass das Gehänsel der anderen Mädchen einfach dazugehört. Mehr als alles andere will sie dazugehören. „Widersprich nicht“, „Ich finde, Elaine muss bestraft werden“ und „Du sollst mich um vergeben bitten“ sind nur einige Sätze, die ihr besonders von Cordelia zugerufen werden. Es erinnert mich an die Dynamik von drei Königinnen und einem Lakaien. Doch die oberste Macht hat immer noch Cordelia. Wenn sie möchte, setzt sie auch die beiden anderen herab, doch in der Regel fokussiert sich alles auf unsere Protagonistin.

    Nachdem die Protagonistin eines Winterabends von den anderen drei unter einer Brücke zurückgelassen wird, scheint ihr langsam bewusst zu werden, dass sie nicht immer das tun muss, was die anderen von ihr verlangen. Es ist schwierig für sie, auseinanderzuhalten, von wem das Böse ausgeht, und auch die vermeintlich lieben Worte zu durchschauen. Elaines Eltern bekommen von alldem wenig mit. Obwohl die Mutter sich einige Sorgen über das Verhalten ihres Kindes macht, insbesondere nachdem sie sie nahe der Brücke gefunden hat, fühlt sie sich in dem „Schulmädchenkampf“ geradezu machtlos. All das erfährt Elaine von ihr jedoch erst viel später.

    Die Protagonistin beginnt sich von den dreien abzukapseln, fängt an, ein wenig für sich einzustehen und verbringt wieder die meiste Zeit allein. Besonders eindrucksvoll war für mich eine Stelle, in der Elaine die Mädchen einfach stehen gelassen hat. „Es ist ein Spiel. Es gab an mir nie etwas, das hätte verbessert werden müssen“, sagt sie zu sich selbst, während sie sich auf dem gemeinsamen Heimweg auf der Stelle umdreht und eine andere Richtung einschlägt. Cordelia ruft ihr weitere Hänseleien hinterher, die jedoch nichts mehr bewirken.

    Mit einem der letzten Sätze, finde ich ihre abschließenden Gefühle sehr schön zusammengefasst: „Das ist es, was ich vermisse, Cordelia: nicht etwas, das vorbei ist, sondern etwas, das nie sein wird. Zwei alte Frauen, die über ihrem Tee kichern.“ Oft spricht die ältere Elaine ihre Kindheitsfreundin in  Gedanken an. Deren Meinung und Präsenz scheinen der Frau immer noch nötig zu sein. Auch wirkt Cordelia wie eine innerliche Stimme der Protagonistin, was nochmal unterstreicht, wie sehr die Hänseleien sich in ihr Unterbewusstsein gebrannt haben.

    Ich finde es bewundernswert, dass hier ein Kindheitstrauma mit all seinen Facetten geschildert wird. Es wird nicht schön geredet, und es wird auch nicht verheimlicht, wie Elaine mit der Zeit selbst Leid zufügt. Das Buch hat mich stärker mitgenommen als ich anfangs erwartet hatte, da es mich an meine eigene Grundschulzeit erinnert. Diese Hass-Liebe meiner damaligen „besten Freundin“, das Abhängigsein von der Akzeptanz anderer und die ständige Angst vor dem Schulbesuch. Die abstrakten und schwer zu greifenden Gefühle einer traumatisierten Person sind so gut in Worte gefasst worden, dass es sich wie eine Umarmung für mich angefühlt hat.

    Mein Auszug aus meiner Heimatstadt war eine Erlösung für mich und gleichzeitig auch ein Sprung ins kalte Wasser. Auch wenn mich meine Vergangenheit immer noch beeinflusst, bringen mich Bücher wie dieses der Heilung einen Schritt näher.

    Grafik: Sara Wolkers

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