Bedeutungsverlust: Eine Hommage, ein Aufruf, ein Nekrolog
Journalismus ist ein Konstrukt, dessen Kern das eine Konzept ist, für das es sich zu kämpfen lohnt: die Wahrheit. Kolumnistin Johanna beschreibt, was jedoch jedem Journalisten Zweifel und Mut bringt.
Was ist der Unterschied zwischen Moral und Recht? Eine Frage, die nur die Juristen beantworten können. Eine Antwort, die mich in jedem Fall enttäuschen würde. Als ich vor ein paar Tagen im Zug auf dem Weg nach Hannover saß, dachte ich seit Langem erneut über diese Streitfrage nach. „Hören Sie auf, tun Sie das nicht, machen Sie nicht die gleichen Fehler, die ich einst begangen habe!“ Komische Worte, die mir eine Fremde beim Ausstieg hinterherwarf. Sie hatte zuvor mein Gespräch belauscht, in dem ich von meinem Tag als Redakteurin für die Tagesschau erzählte. Ich erinnere mich an das Gefühl des Stolzes, das meine Wangen leuchten ließ. Journalismus. Das ist es. Das solle es sein, auf ewig. Meine Euphorie war kaum zu überhören, denn mit den großen Schritten, die ich in letzter Zeit gewagt hatte, und den kleinen Erfolgen, die in meinen Augen übergroß erschienen, war ich nun endlich an dem Punkt angekommen, um zu erreichen, worauf ich viele Jahre hingearbeitet hatte. Die Mühe, die unbezahlten Praktika, der Verzicht auf Urlaub, Freizeit, Erholung. Das alles hatte sich endlich ausgezahlt. Dabei waren die Beiträge für die ARD nur die Spitze des Glücks, es war viel mehr der bestandene Bachelor in letzter Sekunde und der Start in den Journalismus-Master.
„Hören Sie, ich kenne Ihre Geschichte nicht. Ich weiß nicht, was Ihnen widerfahren ist. Aber ich bin mir in meiner Entscheidung sicher, ich bin mir bewusst, was ich tu‘ und worauf ich mich einlasse. Vertrauen Sie mir, nicht jedes Leben hat denselben Weg. Es tut mir leid, wie Sie darüber denken und was Ihnen passiert ist, aber ich kann Ihnen versprechen, ich werde mich von meinem Gewissen leiten lassen.“ Wie gern ich diese Sätze gesagt hätte. Aber die ältere Frau war schon fort, die letzten Mahnungen noch an ihren Mundwinkeln klebend, während sie das Weite suchte. Sie war einst eine Journalistin. Sie war einst engagiert und karrierefokussiert. Sie war einst ein Mensch, dem der Beruf wichtiger erschien als das eigene Leben. Nun flüchtete sie in einem dicken Wintermantel mit ihrem grau-gelockten Hund über den Bahnhof. In ihrem Blick sah ich die Enttäuschung, welche sie ihrem Leben zuschrieb. Und den verlorenen Glauben an die Wahrheit, an Gerechtigkeit, an Integrität im Journalismus.
Verständlich. Ich selbst komme nicht am Zweifel vorbei. Doch genauso habe ich das Bedürfnis, es besser zu machen. Dennoch kann ich ihr die Worte nicht übelnehmen, sie waren eine gutgemeinte Warnung an jemanden, in dem sie sich selbst wahrscheinlich wiedererkannt hatte. So sehr diese Bedenken mein Herz beschweren, so oft ich mir sage, ich möchte gewissenhaft arbeiten, genauso ist mir jedoch klar, dass es nicht immer so sein wird. Das mag pessimistisch klingen, aber es ist ein Abbild der Realität, das jeder erkennen sollte, wenn er als Journalist tätig sein möchte. Damit meine ich nicht unbedingt den Kampf gegen Framing, gegen Persuasion oder gegen den Elitendiskurs, sondern vor allem für die Freiheit, die einem vor allem in diesem Beruf zustehen sollte.
Ich denke an Julian Assange. Ein Mann, der sich der Wahrheit verpflichtet hat und nun dafür büßt. Für mich ist dieses Thema sehr präsent. Mindestens einmal täglich erwische ich mich dabei, wie sein Name über meine Lippen geht. Sicherlich können es die Leute in meinem Umfeld nicht mehr hören. Wie ernüchternd es daher ist, dass es kaum jemanden noch zu interessieren scheint. Wo sind die Menschen, die sich zu Beginn noch auf der Straße versammelten? Habt ihr Assange vergessen oder bereits aufgegeben? Ich kann nicht sagen, dass ich eine Lösung kenne, außer das Erinnern an eine Person, die wahrscheinlich nie wieder einen freien Fuß in die Welt setzen und die Richtung selbst bestimmen wird. Oder vielleicht das Verfassen einer Hommage an einen Menschen, dem bewusst war, welchen Risiken er sich aussetzte, nur um uns Transparenz zu ermöglichen. Möglicherweise wäre das hier der Ort für einen Aufruf, um für Assange zu kämpfen, um zu protestieren, zu schreien, zu flehen. Aber vermutlich ist das nur der Platz für einen Nekrolog. Ist das Gerechtigkeit?
Ich werde immer daran glauben, etwas verändern zu können, vor allem mit friedlichen Worten. Das Beispiel Julian Assange wird mir stets auf der Zunge brennen, denn er ist nur einer der Fälle, die zeigen, dass der Journalismus frei sein muss. Er ist auch gleichzeitig ein Beispiel, dass Moral und Recht nicht immer unterschieden werden dürften. Obwohl Assange im Recht ein verurteilter Mann sein soll, ein Verräter und böser Mensch, den Strafe erwarten müsse, so ist er in meiner eigenen Moral freigesprochen und ein Mensch, der vor seinem Schicksal bewahrt werden muss, um im gleichen Zug die wirkliche Bedeutung des Journalismus zu retten – das Erzählen der Wahrheit.
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