Aus dem Elfenbeinturm heraus
Jedes Semester aufs Neue bringt Kolumnistin Laura ihr Studienfach Philosophie zum Verzweifeln. Am liebsten würde sie dann alles hinschmeißen. Hier begründet sie, warum sie es nicht tut.
Ich sitze im Seminarraum und höre meinem Dozenten halbherzig zu. Während er erklärt, wir wüssten bestimmt mehr als er über die Texte von Sally Haslanger, fühle ich mich einsam und frustriert. Das hat etwas damit zu tun, dass ich im Kurs noch keinen näher kenne, aber auch damit, dass ich den Namen besagter Philosophin gerade allerhöchstens zum zweiten Mal gehört habe.
Zu Beginn jeden neuen Semesters ist es das Gleiche: Ich besuche Seminare zu Philosoph*innen, von denen ich vorher noch nie etwas gehört oder gelesen habe. Mit jedem Satz, der dann fällt und mit jedem wissenden Nicken meiner Kommiliton*innen habe ich mehr das Gefühl, absolut keine Ahnung von meinem Fachgebiet zu haben oder bestenfalls unglaublich wenig zu wissen.
Jedes Mal aufs Neue ist da irgendwo tief in mir die Ahnung, mir ausgerechnet eine Disziplin ausgesucht zu haben, die so derartig breit aufgestellt ist, dass es mindestens drei Leben braucht, um sich mit allen relevanten Texten und Theorien vertraut zu machen. Ausgerechnet ich, die gar nicht aus einem philosophisch oder kritisch interessiertem Umfeld kommt, will das also bewältigen. Da ich dummerweise nur ein einziges Leben habe, keimt in mir dann die Ahnung, wie unmöglich es ist, jemals in irgendeiner Weise „fertig“ zu werden mit der Philosophie. Das ist unglaublich frustrierend. Vor allem, wenn ich bedenke, dass ich in den nächsten Semestern meine Bachelorarbeit schreiben soll und dann vielleicht einen Abschluss in eben diesem Bereich habe. Das heißt dann: Ohne auch nur einen in irgendeiner Weise vollständigen Überblick erlangt zu haben.
Regelmäßig nehme ich mir vor, in den Semesterferien all die Philosoph*innen zu lesen, zu denen ich während des Studiums nicht komme. Ich habe eine Liste gemacht. Aber sind wir mal ehrlich: Meine Ferien bestehen dann doch eher aus ganz viel Schlaf, Netflix, Handyspielen, Zeit mit meinem Freund, malen, dem Lesen mehr oder weniger leichter Literatur und dem Schreiben von Lyrik und Kurzgeschichten – eben allem, wozu ich sonst noch weniger komme.
Vielleicht liegt mein Interessengebiet einfach nicht vorrangig bei dem meiner Kommiliton*innen oder vielleicht bin ich einfach fauler als sie, weil ich mich nicht pausenlos mit Denken beschäftigen kann; weil ich einen Ausgleich brauche. Vielleicht sind die fast 500 Seiten, die ich pro Woche für das Studium lese, nicht genug. Aber vielleicht sind die anderen auch einfach gut darin, ihre Zweifel am Studium und sich selbst zu verstecken.
Ich erkenne jedenfalls jedes Semester aufs Neue, dass ich Philosophie hasse und bin kurz davor, alles hinzuschmeißen. Denn mit dem Gedanken an das unüberwindbare Projekt, dass sich vor mir auftürmt, kommt die Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit auf und auch immer wieder die Frage, was all das für einen Sinn hat.
Außerdem belege ich regelmäßig aus Versehen Seminare, die genau meine gerade so dringenden Lebensfragen berühren und befinde mich dann in einer merkwürdigen Zwischenstimmung: zwischen dem Gefühl, doch etwas Sinnvolles für mich zu tun und dem, bislang mein Leben völlig falsch angegangen zu sein. Dann verliert alles an Wert, was mir mal erstrebenswert schien. Vor wenigen Dingen habe ich so viel Angst wie vor diesem Gefühl.
Trotzdem tue ich mir das regelmäßig selbst an. Das hat einen ganz einfachen Grund: Ich liebe die Philosophie. Ich liebe sie, weil ich durch sie jedes Semester Neues entdecke und etwas lerne. Über andere Ansichten und Theorien, andere Menschen, mich selbst. Weil ich etwas wage. Das Lesen macht unglaublichen Spaß, gerade weil es so fordernd ist. Ich wollte nie etwas studieren, was einfach ist, was ich schon kann. Ich wollte nie etwas studieren, was man einfach auswendig lernen kann.
Im Philosophiestudium darf ich denken, soll sogar. Ich darf verzweifeln und keinen Plan haben. Ich darf mein Leben reflektieren und umwerfen und bekomme auch noch Leistungspunkte dafür, über alles verzweifelt zu sein und mit anderen Verzweifelten in einem Raum zu sitzen. Auch darum liebe ich mein Studium: weil zusammen nach Antworten zu suchen so verbindend sein kann.
Außerdem schreiben wir verhältnismäßig viel. Ich mag lange Fußnoten, zitieren und wissenschaftliches Arbeiten mit anderen Texten; fühle mich darin zuhause.
Insgeheim habe ich vielleicht auch eine tiefe Liebe für das Verzweifelt-Sein über die Seminare und die Worte anderer entwickelt. Weil es nur im ersten Moment erschreckend ist, wenn jemand noch völlig fremdes dir die Probleme hinschreibt, die du tief im Innersten herumträgst. Im zweiten Moment ist es unendlich tröstlich, nicht allein zu sein.
Foto: Anirudh Padhke
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