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  • „Existier mit mir!“

    Das Ballett „Marin/Schröder“ hat luhze-Autorin Isabella gezeigt, dass Ballett mehr ist als „Schwanensee“ und weiße Tutus.

    Die Bühne ist leer und dunkel. Wasserrauschen ist zu hören, wie Regen, der sanft auf die Erde prasselt. Gelegentlich wird er durchbrochen von Donnergrollen, das aber nicht bedrohlich klingt, sondern wie bei einem noch weit entfernten Frühlingsgewitter. Zwei Personen, ein Mann und eine Frau, betreten die Bühne. Sie tragen beige Ganzkörperanzüge und Masken in derselben Farbe. Nach einigen Schritten über die Bühne bleiben sie stehen, die Frau springt auf den Mann, schlingt die Arme um seinen Hals, hält sich fest, springt wieder ab, sie gehen weiter. In der Mitte der Bühne dasselbe Spiel, stehenbleiben, aufspringen, festhalten, abspringen und weiter. Ein paar Schritte weiter bleiben sie ein drittes Mal stehen, die Frau springt auf, hält sich an ihrem Tanzpartner fest – und bleibt, wo sie ist. Für den Rest des Tanzes wird sie den Boden so gut wie gar nicht mehr berühren.

    Ihr Tanzpartner trägt sie auf dem Rücken, auf den Schultern, in den Armen, schlingt sich ihren Körper um den Hals, wirbelt sie herum, als wäre sie federleicht. Die beiden hören nicht auf, einander zu berühren. Es sind zwei Körper, die untrennbar voneinander zu sein scheinen und teilweise so miteinander verschmelzen, dass ich nicht mehr weiß, wo der eine Mensch beginnt und der andere aufhört. Der Umgang des männlichen Tänzers mit seiner Partnerin ist mal sanft, mal wild, mal ruppig – liebkost oder misshandelt er sie? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass diese beiden Körper eins sind.

    Etwa 15 Minuten dauert „Duo d’Eden“, der erste von drei Teilen des Ballettstücks „Marin/Schröder“, das am 13. November mit musikalischer Begleitung des Gewandhausorchesters in der Oper Leipzig Premiere gefeiert hat. Die Choreografie ist ein Teil der Kreation „Eden“ aus dem Jahr 1986, geschaffen von der französischen Tänzerin und Choreografin Maguy Marin. Im Programmheft heißt es: „Nachdem sie festgestellt hatte, dass ihre Tänzer sich bei der Arbeit im ,Duo‘ oft verletzt haben, experimentiert sie mit ihnen mit neuen Formen von Bewegungsmustern, die auf geschickten Gewichtsausgleichsbeziehungen beruhen.“

    In „Panta Rhei” scheinen die Tänzer*innen zu einer Einheit zu verschmelzen.

    Tatsächlich wirkt das Stück irgendwie gefährlich, und auch wenn die beiden Tänzer*innen beinahe mühelos miteinander zu verschmelzen scheinen, geht mir mehrmals der Gedanke durch den Kopf: Was, wenn er sie jetzt fallen lässt? Doch sie fällt nicht. Die beiden Körper sind eins, in perfekter Harmonie.

    Und so geht es weiter zum zweiten Teil des Abends, der ebenfalls von Maguy Marin kreierten und 2001 uraufgeführten Choreografie „Große Fuge“, in der Streichmusik von Ludwig van Beethoven den Regen ersetzt.

    Vier Tänzerinnen bilden diese Choreografie, alle sind ganz in Rot gekleidet. Die Musik ist mal sanft und langsam, dann wieder zügig und fordernd, mal laut, mal leise, immer irgendwie in Bewegung – genauso wie die Tänzerinnen, die keine Sekunde innezuhalten scheinen. Sie machen auf der Bühne die meiste Zeit ihr eigenes Ding, jede scheint ihre ganz eigenen Schritte und Wege zu haben. Ich weiß gar nicht wirklich, wo ich hinsehen soll. Doch hin und wieder verschmelzen zwei, drei oder – in ganz seltenen Fällen – sogar alle vier zu einer Einheit, tanzen plötzlich synchron, nur um im nächsten Moment wieder auseinanderzufliegen. Sie tanzen wild und lebhaft, von ausladenden Armbewegungen über schwindelerregende Drehungen bis hin zum gelegentlichen Sprint über die Bühne ist alles dabei. „Leben, solange wir leben“, heißt es in der Beschreibung dieser Choreografie, und tatsächlich kann ich mir etwas Lebendigeres als diese vier Tänzerinnen, die so schwungvoll, jede für sich und doch gemeinsam, über die Bühne fliegen, plötzlich nicht mehr vorstellen.

    Nach ungefähr zwanzig Minuten ist die „Große Fuge“ vorbei, und damit der Teil des Abends, der von Maguy Marin kreiert wurde. Im dritten und letzten Teil ist die Choreografie von Mario Schröder an der Reihe. Er ist seit der Spielzeit 2010/2011 Ballettdirektor und Chefchoreograf des Leipziger Balletts an der Oper Leipzig. Im Gegensatz zu Maguy Marins Choreografien feierte sein Stück „Panta Rhei“ – altgriechisch für „alles fließt“ – bei der Premiere seine Uraufführung. „Unser Geist ist immer in Bewegung“, sagt er über sein Werk, und: „Es gibt ja nichts Schöneres, als wenn alles fließt, wir im Flow sind, wenn Mechanismen, mit denen wir kommunizieren, fließen. Vielleicht ist dieses Panta Rhei auch ein Wunschdenken.“

    „Alles fließt“ wird in der Choreografie wörtlich genommen. Auf der Bühne, die zu Beginn in rotes Licht getaucht ist, sind verschiedene Gegenstände zu sehen: rote Leuchtstäbe, eine Kugel, die von einem*einer Tänzer*in über den Boden gerollt wird, ein großer Fleck aus Stoff, der über den Bühnenrand wabert, ein riesiges Tuch, das von der Decke herabhängt. Plötzlich fällt es zu Boden. Ein technischer Fehler? Ich bin noch etwas irritiert von dem abrupten Fall, als das Tuch schon wieder an einem Seil zurück nach oben gezogen wird. Dann begreife ich: Alle Gegenstände – auch das Tuch – sind dauerhaft in Bewegung, ebenso wie die Tänzer*innen, die nach und nach auf die Bühne kommen.

    Die eher ruhige Stimmung schlägt abrupt um, als ein in Weiß gekleideter Tänzer auftaucht. Verfolgt von einem weißen Lichtstrahl rennt er über die Bühne, bis plötzlich eine rot gekleidete Tänzerin dazukommt und direkt in seine Arme springt. Die Interaktion der beiden mit den anderen Tänzer*innen wird bizarr: An der Hand ihres Partners läuft die Tänzerin über die Rücken der anderen, während hinter ihnen das Tuch erneut zu Boden fällt. Dann legt der männliche Tänzer sich quer über die anderen und rollt auf ihnen über die Bühne, wobei seine Tanzpartnerin auf seinem Rücken steht und versucht, das Gleichgewicht zu halten.

    Die Musik, die von Johann Sebastian Bach und Pascal Dusapin stammt, wechselt von ruhig und sanft zu laut, schnell, fast irgendwie bedrohlich. Sie erinnert mich an einen wilden Fluss, der vom Sturm aufgewühlt wird und sich hin und wieder für einen kurzen Moment beruhigt. Die Tänzer*innen, einige in Rot, andere in Weiß gekleidet, scheinen federleicht über die Bühne zu fliegen, sie sind wild, schnell und wie alles um sie herum immer in Bewegung. Wenn die Tänzer*innen synchron tanzen, habe ich das Gefühl, dass sie nicht mehr verschiedene Körper sind, sondern ein einziger. Wie kann es sein, dass Menschen miteinander zu verschmelzen scheinen, nur weil sie dieselben Bewegungen machen? Die Frage schießt mir durch den Kopf, während im Hintergrund das Tuch zu Boden fällt.

    „Existier mit mir!“, steht auf der Titelseite des Programmhefts, und das ist genau das Gefühl, das Tanz und Musik mir an diesem Abend vermitteln: Als würden wir gemeinsam existieren, als würden wir wirklich leben, da sein, alle zusammen. „Das Leben ist wild und laut und schön!“, scheint das Stück mir entgegenzubrüllen. Wenn ich bisher an Ballett gedacht habe, dachte ich an „Schwanensee“, an Tutus und an Tänzer*innen, die unter einem völlig klischeehaften Druck stehen, perfekt sein zu müssen. Wenn ich jetzt an Ballett denke, denke ich an Freiheit, an laute Bewegungen (ich wusste bisher gar nicht, dass Bewegungen laut sein können) und an den Ausdruck von Gefühlen. Ob die Tänzer*innen unter der Leitung von Maguy Marin und Mario Schröder unter großem Druck stehen, weiß ich natürlich nicht. Aber das Gefühl, das sie mir beim Tanzen vermitteln, hat mit Druck nichts zu tun – es ist ein Gefühl von Freiheit.

    Das Ballett „Marin/Schröder“ ist noch am 11. und 16. Dezember im Opernhaus Leipzig zu sehen.

     

    Fotos: Ina Zenna

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