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  • Ode an die Sterne

    Draußen wird es kalt und nass – der Winter naht. luhze-Autorin Isabella erklärt, warum sie ihre Freude darüber kaum zurückhalten kann.

    Ich bin froh, dass es Winter wird. Während andere Menschen mit Winterdepressionen zu kämpfen haben, sich nach der Wärme der Sonne zurücksehnen oder sich vor einem einsamen Weihnachtsfest fürchten, mache ich innerlich Luftsprünge vor Freude. Versteht mich nicht falsch, auch ich hasse es, zu frieren. Aber der Winter hat einen ganz entscheidenden Vorteil gegenüber allen anderen Jahreszeiten: Es wird früh dunkel und spät hell. Das bedeutet: Die Sterne sind länger zu sehen.

    Sonnenschein ist ja schön und gut, aber die Sterne fehlen trotzdem. Foto: privat

    Vor ein paar Jahren hat mir meine damalige Therapeutin gesagt, ich müsse etwas finden, was ich schön finde. Eine Sache, auf die ich mich immer konzentrieren kann, wenn es mir nicht gut geht. Ich war wenig überzeugt von der Idee, weil ich sicher war, dass es kein „Allheilmittel“ gibt, das immer helfen kann. Doch ich wollte meine Therapeutin nicht enttäuschen, also begab ich mich widerstrebend auf die Suche – und wurde irgendwann, in der kalten Jahreszeit irgendeines sonst völlig normalen Jahres, fündig: die Sterne. Ich war mit meinem Hund spazieren und fühlte mich schlecht. Irgendwann legte ich eher zufällig den Kopf in den Nacken, und mein Blick fiel auf die winzig kleinen, silbern leuchtenden Punkte am schwarzblauen Himmel. Ganz automatisch schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Diese winzig kleinen, silbern leuchtenden Punkte sind eigentlich gar nicht so winzig klein. Sie sehen nur so aus, weil sie so weit weg sind. Ich wurde daran erinnert, wie unendlich groß die Welt sein muss, in der wir leben, wenn etwas so weit weg sein kann, dass es so unfassbar klein erscheint. Und dann dachte ich an all die Dinge, die so weit weg sind, dass ich sie überhaupt nicht sehen kann, nicht einmal winzig klein. All die Sterne und Planeten, die unerreichbar für mich sind. Ich stellte mir vor, da draußen zu sein, irgendwo im Weltall, und auf die Erde herabzusehen. Ich könnte keine Häuser erkennen, keine Straßen, keine Autos. Menschen auszumachen, wäre völlig unmöglich. Dafür sind wir viel zu klein.

    Ich fühlte mich wie ein winziges Molekül in einem endlosen Geflecht aus Raum und Zeit, nicht sichtbar in der Masse von Dingen und Lebewesen, nur ein Teil von unendlich vielen. Und irgendwie war dieser Gedanke tröstlich. Denn wenn ich so klein bin in allem, was in diesem Universum existiert – wie groß können dann schon meine Probleme sein? Ich stellte mir vor, von oben auf die Erde herabzusehen, und begriff schnell, dass ich meine Sorgen von dort aus gar nicht erkennen könnte. Wie klein und unbedeutend ist eine nicht ganz zufriedenstellende Schulnote in diesem riesigen Konstrukt, das unsere Welt bildet? Wie klein und unbedeutend ist es, dass ich mich mit meinem Bruder gestritten habe, oder dass ich das Gefühl habe, das meine Eltern mich nicht verstehen und sich auch gar nicht für mich interessieren? Wie klein und unbedeutend sind plötzlich meine panische Angst vor dem nächsten Referat, die gehässigen Beleidigungen, die mir ein Junge aus meiner Klasse an den Kopf geworfen hat, oder die aggressive Frau, die mich angeschrien hat, weil ich meinen Hund in einem Hundeauslaufgebiet nicht angeleint habe? Als ich hoch zu den Sternen sah, wurden all die Dinge, über die ich mir sonst stundenlang den Kopf zerbrach, über die ich weinte und innerlich komplett austickte, unbedeutend und klein. Selbst meine Depression und die Angststörung wirkten weniger bedrohlich. Ich fühlte mich automatisch besser, und trotz der winterlichen Kälte breitete sich in mir eine angenehme Wärme aus. In diesem Moment wusste ich, dass ich mein „Allheilmittel“ gefunden hatte.

    Seitdem schaue ich jedes Mal, wenn es mir nicht gut geht, in den Himmel und erinnere mich daran, wie klein meine Probleme im großen Ganzen sind. Die Taktik funktioniert auch ohne Sterne, aber nicht ganz so gut. Nur wenn Sterne am Himmel zu sehen sind, kehrt die Wärme wirklich in mein Herz zurück.

    Die Sterne anzusehen, heilt keine psychischen Krankheiten. Physische natürlich genauso wenig. Und auch kleine Probleme sind wichtig und müssen bekämpft werden. Auch kleine Sorgen brauchen ihren Platz in unserem Leben. Und auch wenn wir im Vergleich zum Universum verschwindend winzig wirken, sind wir als Menschen doch jede*r Einzelne unendlich kostbar. Aber vielleicht machen wir unsere Probleme manchmal größer, als sie sein müssten. Und vielleicht steigern wir uns manchmal rein in irgendwelche schlechten Gedanken, die letztlich nicht so wichtig sind, wie sie sich für uns anfühlen. Genau daran erinnern mich die Sterne und haben mich so durch ihre bloße Anwesenheit schon oft davon abgehalten, wegen irgendeiner Kleinigkeit psychisch komplett zusammenzubrechen. Und dafür werde ich ihnen immer dankbar sein.

     

    Foto: pixabay

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