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  • Lesen als Umarmung

    Annie Ernaux’ „Die Jahre“ hat luhze – Redakteur Daniel sehr berührt. Diesem Gefühl will er nachgehen und es weitergeben.

    Annie Ernaux ist die Meisterin der Magie zwischen den Zeilen. Allein beim Schreiben dieses Satzes bin ich tief bewegt, denn er bringt sehr unbeholfen zum Ausdruck, dass durch Annie Ernaux’ Werke etwas hindurchgeht, das sich nur schwer in Worte fassen lässt. Am ehesten trifft das Wort „Wärme“ zu. Eine Wärme, die mich innerlich ausfüllt, berührt, mir etwas gibt, das viele Bücher nicht mal im Ansatz in mir auszulösen vermögen. Ein zutiefst geheimnisvolles und doch nicht diffuses Gefühl, eine Ahnung Verbundenheit und ja… Geborgenheit. Annie Ernaux’ Bücher sind häufig wie Umarmungen, die aus einer Haltung der völligen Offenheit beim Schreiben entstehen.

    Ich möchte mit „Die Jahre“ Annie Ernauxs Opus Magnum vorstellen. Es ist kein Roman, sondern ein autobiografisches Reflexionsprojekt. Der Text setzt in ihrer Kindheit an und endet im Jahr 2009,  zu diesem Zeitpunkt war sie fast siebzig Jahre alt. Es war das erste Buch, das ich von Annie Ernaux gelesen habe und es eignet sich hervorragend als Einstieg in ihr Gesamtwerk, da ihre übrigen Bücher stärker auf einzelne Episoden ihres Lebens fokussiert sind.

    Annie Ernaux hat manchmal einen subtil-genialen Humor. Foto: privat.

    „Die Jahre“ besteht aus Erinnerungsschnipseln, die sich langsam zu einem Gesamtbild fügen. Häufig beschreibt Annie Ernaux die Motive alter Fotos und zeichnet von dort aus die Erinnerung weiter und weiter, bis aus dem Bild eine plastische Darstellung des Menschen wird, der sie zum Entstehungszeitpunkt war. Ihr Kindheit verbrachte sie in ärmlichen Verhältnissen in Nordfrankreich. Der Zweite Weltkrieg prägte ihr Aufwachsen genauso wie die harten Lebensbedingungen ihrer Familie, die nicht einmal eine Dusche zuhause hatte. Nach der Schule löste Ernaux sich von der Umgebung, in der sie aufgewachsen war, studierte Philosophie und Literatur und wurde Lehrerin. Vieles, was in anderen Werken genauer ausgeführt wird, kommt in „Die Jahre“ nur zur Andeutung: erste sexuelle Erfahrungen, ihre Ehe, Affären. Dennoch entsteht ein stimmiges Gesamtbild, das immer vom Individuellen ins Gesellschaftliche ausgreift, wobei auch immer politische Ereignisse und historische Entwicklungen Eingang finden.

    Die Besonderheit der Darstellung in „Die Jahre“ ist, dass Annie Ernaux entweder im „man“ oder im „sie“ von sich spricht. Anfangs hat mich das unpersönlich scheinende „man“ gestört. Jedoch entfaltet es bisweilen auch eine große erzählerische Kraft, da es die Eingebundenheit eines Individuums in größere Zusammenhänge und das Fremdheitsgefühl gegenüber eigenen Erlebnissen gut zum Ausdruck bringt.

    „Sie hat die Seiten gewechselt, ohne zu wissen, welche, und wenn sie auf ihr bisheriges Leben zurückblickt, sieht sie nur zusammenhanglose Bilder.“

    Dieser Satz bringt die Verunsicherung zum Ausdruck, die sich durch Annie Ernauxs wechselvolle Biografie zieht und gesellschaftlich bedingt ist. Als Seiten, die gewechselt wurden, werden die Welt des Proletariats und des Bürger*innentums angedeutet. Als jemand, der selbst aus der Unterschicht kommt, kann ich das sehr gut nachempfinden: neben der Verunsicherung durch die verschiedenen „Klassenwelten“, die ich selbst kennengelernt habe vor allem dieses Gefühl der absoluten Zusammenhangslosigkeit einzelner Abschnitte meines Lebens, die kein „Gesamtleben“ ergeben, sondern sich widersprüchlich anfühlen, weil ich mich im Laufe der Jahre so verändert habe und mich manchmal frage, wer ich eigentlich bin. Und schreibend diese Frage „Wer bin ich nach so langer Zeit, weil ich ja so viele war?“ zu beantworten, das schafft (versucht?) Ernaux auf zweihundert Seiten und der Zeitraum, um den es geht, erstreckt sich über fast siebzig Jahre. Das ist eigentlich Wahnsinn, aber trotzdem scheint es zu gelingen.

    „Ihr Körper ist jung, ihr Geist ist alt. Sie schreibt in das Tagebuch, ihr Kopf sei voller ‚vorgefertigter Ideen und Theorien’, sie sei auf der Suche nach einer ‚anderen Sprache‘, und sie würde am liebsten zu einer ‚ursprünglichen Klarheit’ zurückkehren.“

    Hier drückt sich die suchende Intellektuelle und angehende Schriftstellerin aus. Ich finde den Satz wunderschön, sehr berührend und zum Ausdruck bringend, was ich selbst auf ähnliche Weise fühle. Denn eine Sprache für etwas zu haben, das bedeutet, einen Bezug, eine Verbindung, aber auch eine Abgrenzung herstellen zu können und das ist (überlebens)wichtig, um nicht im Chaos der Eindrücke zu ertrinken (sondern im Meer des modernen Lebens rumschwimmen zu können). Um mich auf meine Art autonom zu fühlen. Wie viele „Sprachsysteme“, mit denen ich mich beschäftigt habe, kratzen nur an der Oberfläche dessen, was meine Realität ausmacht: die Sprache der Nachrichten in den Medien, die Sprache des akademischen Diskurses, die Sprache meiner Mitmenschen, alles schön, gut und wichtig. Aber ich hatte doch mal eine eigene Sprache oder zumindest eine eigene Wahrnehmung, als Kind vielleicht, etwas Ursprüngliches, sicherlich Geprägtes, Geformtes, aber nicht danach Überformtes. Und da will ich wieder hin. Wie Ernaux?

    „Zu jedem Moment gibt es neben dem, was als normal gilt – was Leute ganz selbstverständlich tun und sagen, was Bücher, Werbeplakate in der Metro und Witze einem zu denken diktieren – , all das, worüber die Gesellschaft Schweigen bewahrt und so all jene, die diese Dinge empfinden, sie aber nicht benennen können, zu Einsamkeit und Unglück verdammt.“

    Während ich diesen Satz abtippe, kommen mir die Tränen, er ist wunderbar. Im Buch geschieht genau das, was dieser Satz letztlich einfordert, nämlich die Artikulation von Gefühlen, ihre Einordnung, die Schaffung eines großen Ganzen. Und jeder sensible Mensch kennt das: Du bist im Raum mit Anderen, alle agieren seriös, aber Himmel, unter der Oberfläche passiert so viel und warum treffen wir uns hier und warum tun wir eigentlich, was wir tun (?) und unter der Oberfläche der Fragen lauert das Chaos, aber vielleicht noch mehr als das. Im positiven Sinne. Und Leistungsdruck und Denkdiktate machen es irgendwie unmöglich, das Ganze zu entwirren und verknoten alles noch mehr, bis der Knoten unlösbar wird, aber guckt mal, er hält ja so gut…

    Vielleicht ist es das in den letzten Absätzen angedeutete Gefühl innerer Berührtheit, das die Lektüre von „Die Jahre“ und vieler anderer Werke von Annie Ernaux für mich ausmacht: Ich spüre sie beim Lesen als Mensch, als jemanden, der eine unfassbare Gefühlsintensität und Offenheit in sich trägt. All das erzeugt eine starke Resonanz mit meinem eigenen Innenleben, die mir ein Gefühl des Verstandenseins vermittelt. Die biografischen Unterschiede fallen dabei nicht ins Gewicht, denn es ist vor allem Annie Ernauxs „Art“, die ich liebe.

     

    Anmerkung:

    Die Zitate stammen aus der Übersetzung von Sonja Finck, die 2019 im Suhrkamp Verlag erschienen ist.

     

    Foto: Sara Wolkers

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