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  • Ankreiden statt rausschneiden

    Catcalls of Leipzig macht sexuelle Belästigung auf der Straße sichtbar.

    „Ey, fahr mal langsamer, damit wir Zeit haben deinen geilen Arsch anzuschauen.“
    So oder so ähnlich wird Menschen in der Öffentlichkeit hinterhergerufen. Sie werden von ungefragten Kommentaren und Bewertungen aus ihrer Situation gerissen. Dabei stellt sich die Frage: Werden Betroffene mit einem Kompliment oder einer sexuellen Belästigung konfrontiert?

    Catcalling bezeichnet sexuell anzügliches Rufen, Reden, Pfeifen oder sonstige Laute im öffentlichen Raum und stellt eine Form der verbalen sexuellen Belästigung dar.
    Betroffene gibt es überall und keine*r wird davon ausgeschlossen. Sie werden auf der Straße, während des Heimwegs oder beim Gang zum Supermarkt sexualisiert. Es ist intim, so nah von Fremden betrachtet zu werden, obwohl es nicht gewünscht wird. Dennoch ist es Alltag vieler Personengruppen, insbesondere FLINTA, die diesem Problem nicht entkommen können.

    „Ach, das ist doch nicht so schlimm“, kommentiert eine alte Dame im Vorbeigehen, während wir am Willy-Brandt-Platz die Erfahrungen von Betroffenen niederschreiben. Es ist regnerisch und kalt, Indra und Mars von Catcalls of Leipzig gehen trotzdem ankreiden. Über ihre Instagramseite kann sich jede*r melden, der*die Belästigung im öffentlichen Raum erfährt, egal ob sexuell, rassistisch oder LGBTQIA+ feindlich. Zitate der Betroffenen werden mit Kreide am Ort des Geschehens zu Boden gebracht. „Sie finden das nicht so schlimm? Das ist in Ordnung, aber ich finde es schlimm“, begegnet ihr Indra, Gründerin von Catcalls of Leipzig, freundlich.

    Sie ist vor zwei Jahren erstmals allein auf die Straße gegangen, um sexuelle Be­läs­tigung dort sichtbar zu machen, wo sie stattfindet und alle damit konfrontiert werden. Heute hat sie weitere acht Aktivist*innen um sich. Sie kreiden an, was sonst so schnell über die Lippen geht und verhallt.

    Hier, in Schriftgröße 500 und in leuchtenden Farben zu unseren Füßen, nimmt das alles ein ganz anderes Ausmaß an. Immer wieder ziehen wir die Buchstaben von „Ey du Schlampe, ich bezahl dir deine nächste Gesichts-OP“ nach, damit sie auf dem nassen Asphalt nicht untergehen. Dafür, dass Catcalling so häufig ist, kommt die Beschäftigung damit wirklich zu kurz. Erschreckt von der Ignoranz, die dem Konflikt entgegengebracht wird, wirkt das Ankreiden auf mich fast natürlich.

    Genau hier greifen die Aktivist*innen an. Das Problem ist die Normalität dieser Übergriffe, wodurch der Konflikt dahinter übergangen wird. Mars stellt sich vor mich und ahmt nach, wie sie in der Vergangenheit selbst oft auf Zurufe reagiert hat: Mit einem bescheidenen „Danke“ in unsicherem Ton und einem falschen Lachen, wie dem Ganzen zu entnehmen ist. Mars macht somit deutlich, dass sich die meisten Betroffenen mit Catcalling unwohl fühlen, weil sie aus Scham und Angst vor diesem plötzlichen Distanzverlust in eine Rolle geraten, der sie sich nicht zugehörig fühlen. Das ist im besten Fall unangenehm. Schwieriger wird es, wenn sich daraus eine Unsicherheit im öffentlichen Raum ergibt. Denn Betroffene werden teilweise auch körperlich konfrontiert, wie durch Wegabschneidungen, andere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit oder Berührungen. Grausam kann es werden, wenn aus Catcalling physische Angriffe werden wie Vergewaltigungen und Femizide.
    Ein älterer Herr möchte dies beim Ankreiden kaum glauben: „Aber doch heute nicht mehr“, erwidert er selbstsicher. Erst Anfang November ist eine 31-jährige Frau einem männlichen Tatverdächtigen in einem Leipziger Hotel zum Opfer gefallen, wobei es sich um Totschlag handeln soll. Also doch auch noch heute. Der Konflikt ist tiefgreifend. Macht­ausübung gegenüber marginalisierten Gruppen ist ein gesellschaftlich verankertes Pro­blem. Die beiden von Catcalls of Leipzig sprechen von einer Gewaltpyramide: Es fängt bei Zurufen an und spitzt sich im schlimmsten Fall in Tötungen zu. Die Ursachen sind dieselben. Das Machtgefälle wertet marginalisierte Gruppen in ihrer Würde ab.

    Ignoranz und fehlende Aufklärung scheinen auch gewissermaßen Teil des Problems zu sein. Es ist wichtig schnell und sicher auf Catcalling zu reagieren, egal ob als Betroffene*r oder Außenstehende*r. Täter*innen sexueller Belästigungen sollten zumindest auf ihre Übergriffigkeit hingewiesen werden. Doch es bleibt schwer zu sagen, wer hier in der Verantwortung steht, aufzuklären.

    Indra meint, sie habe sogar Verständnis für die Unwissenheit mancher männlicher Passanten, welche mit uns ins Gespräch kamen. Wer nie selbst mit Zurufen konfrontiert werde, bekomme nur schwer mit, dass es Betroffene gibt. Auch dort setzt die Arbeit von Catcalls of Leipzig an. Sie gibt Täter*innen und Betroffenen den Raum, sich ihrer Rolle bewusst zu werden und zeigt dabei auch Nicht-Involvierten den Konflikt auf.
    Mars und Indra hinterlassen Eindruck bei mir, die beiden sind da und aktiv. Sie reflektieren ein unsichtbares Problem, setzen es in einen Kontext, gehen dagegen an, klären auf, unterstützen Betroffene und betreiben Prävention. Das alles nebenbei und mit einer bedingungslosen Selbstverständlichkeit, obwohl es auch sie Mut kostet. Bevor wir uns die Hände beim Ankreiden schmutzig machen, oder auch nicht, denn diese Form des Aktivismus ist im Gegensatz zu vielen anderen eine vollkommen legale Möglichkeit der Auseinandersetzung, führen mich Indra und Mars, während sie eine rauchen, geduldig in ihre Materie ein. Catcalls of Leipzig ist eine intersektionale feministische Gruppe, das heißt vor allem, dass sie alle Geschlechter, Internationalitäten und Sexualitäten inkludiert. „Entweder sind wir für alle, oder für niemanden!“, verkünden mir die beiden stolz im Chor. Das ist nicht selbstverständlich, wie ich gelernt habe.

     

    Indra und Mars kreiden gemeinsam an

    Indra und Mars beim Ankreiden.

    Catcalls of Leipzig ist auch bei Demonstrationen präsent, sie halten Redebeiträge, geben Interviews, stellen Forderungen – auch an die Stadt. Jedes Jahr am 8. März, dem Internationalen Frauentag oder auch „feministischen Kampftag“, wie mir ihn Indra mit einem heimtückischen Lacher in ihre Sprache übersetzt, formuliert die Gruppe Forderungen an die Stadt Leipzig zur Prävention von Belästigungen und sexuellen Übergriffen, dieses Jahr zum Thema Heimweg und wie man diesen sicherer gestalten kann.
    Diese ganze Arbeit kostet Zeit und Kraft. Schon die Auseinandersetzung mit dem Thema scheint bedrückend, vor allem weil es kein Ende mit einer klaren Lösung gibt. Die beiden sind wie in einen ständigen Kampf um Strukturwandel verwickelt. Zudem besteht die Gruppe aus nur neun stetigen Mitgliedern, mit dem Ankreiden kommen sie da schon lange nicht mehr hinterher. Dazu noch die ganze Social-Media-Arbeit, der Austausch mit den Betroffenen, wöchentliches Plenum, Vorbereitung von Aktionen und ihre öffentliche Anwesenheit. In manchen Wochen, in denen es viel zu tun gibt, kommen die Mitglieder teilweise auch mal auf 20 Stunden für Catcalls of Leipzig.

    Hinzu kommen noch die ständige Weiterbildung und Hauptbeschäftigungen wie Arbeit oder Studium. Das ist aufwändig und vielleicht auch manchmal etwas zu viel, doch die Mitglieder passen gegenseitig auf sich auf. So bekomme ich trotzdem den Eindruck, dass die beiden auch persönlich von ihrem Aktivismus zehren. Euphorisch erzählen sie mir, wie sehr sie die unterschiedlichen Aufgabenbereiche von Catcalls of Leipzig schätzen. Sie lieben es, sich mit Gleichgesinnten politisch austauschen zu können, eine Plattform und eine Stimme zu haben, aktiv zu werden, wenn sie den Bedarf spüren. Deshalb kreiden sie auch nicht einfach nur an, sondern bemühen sich um eine allgemeine politische Präsenz.

    Außerdem erzählen sie mir, dass sie die Arbeit in der Gruppe selbstsicherer und mutiger werden lässt, um so mit Belästigungen umzugehen, wie sie es persönlich für richtig erachten. Logisch, wenn man erstmal mit den beiden da unten auf dem Boden hockt. Auf das Ankreiden fokussiert, verliert man teilweise das Bewusstsein für die Situation. Erst als ich aufsehe, in die neugierigen und auch irgendwie auffordernden Blicke der Passant*innen, merke ich, wie angreifbar sich die Aktivist*innen auch selbst bei ihrer Arbeit machen.
    Vor allem die ständigen Fragen und Kommentare von der Seite können verunsichern. Indra erklärt mir, dass sie am liebsten zu dritt ankreiden, damit sich eine Person in den Diskurs mit Passant*innen begeben kann, was auch wirklich notwendig ist. Die Reaktionen sind zahlreich und sehr durchmischt. Überraschend dabei ist die Häufigkeit des Unverständnisses für den Konflikt, dann aber wiederum auch das Interesse, sich eines Besseren belehren zu lassen, womit die Aktivist*innen gewissermaßen genau ins Schwarze treffen. Diese Reaktionen zeigen, dass Catcalling absolut nicht als Kompliment aufgefasst werden sollte.

    Zudem kommen sehr viele weiblich gelesene Personen auf uns zu, um uns sowohl ihre Anerkennung als auch eigene Betroffenheit zu zeigen. Die meisten davon verabschieden sich mit einem wirklich aufrichtigen Dank. Diesen erhält die Gruppe häufig auch noch im Nachhinein von den Betroffenen selbst, nach Abschluss der Ankreide-Aktion über Instagram. Dort postet @catcallsoflpz die Bilder der Zitate im gesamten Kontext der Belästigung und erst damit ist die Aktion beendet. Für viele Betroffene ist der Schritt auf die Gruppe zu auch ein wichtiger Teil der Verarbeitung. Er lässt sie Sicherheit zurückgewinnen und sich gehört fühlen. Indra meint, das Ankreiden mache vermutlich den größten Unterschied für Einzel­personen. Umso schöner, dass Catcalls of Leipzig auch darin die Notwendigkeit sieht.

     

    Fotos: Henriette Pals

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