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  • Ich bin (nicht) schüchtern

    Kolumnistin Isabella leidet an einer psychischen Krankheit, über die öffentlich wenig gesprochen wird. Darin liegt auch ein Stück Ironie, denn wenig zu sprechen ist ein Hauptsymptom dieser Krankheit.

    Ich habe eine soziale Angststörung.

    Erst einmal habe ich das so direkt ausgesprochen, vor einem Mädchen, das ich kaum kannte, und ihre Antwort war: „Ich war früher auch voll schüchtern.“

    Schüchternheit. Meine Krankheit wird oft damit gleichgesetzt, dabei ist sie so viel komplexer. Die Panikattacken, wenn zu viele Menschen um mich herum sind. Der tranceähnliche Zustand, in den ich abgleite, wenn sich die Leute um mich herum unterhalten und ich mal wieder nichts beitragen kann. Die lähmende Blockade in meinem Kopf, wenn mir eine Frage gestellt wird. Eigentlich könnte ich sie beantworten. Weil ich dafür aber meinen Mund aufmachen und mit einer anderen Person sprechen müsste, weiß ich plötzlich nicht, was ich sagen soll. Jedes Interview, jede Verabredung, jeder Schritt nach draußen macht mir Angst. Ich kann nicht einmal mit meiner Tante über das Wetter sprechen. Meistens weiß ich nicht, was ich sagen soll, wie ich mich richtig verhalte. Wenn ich es doch mal weiß, traue ich mich nicht, weil ich doch nicht ganz sicher bin und mich davor fürchte, etwas falsch zu machen. Es ist, als hätte jeder Mensch zur Geburt ein Handbuch bekommen, wo genau erklärt wird, wie man mit anderen kommuniziert, nur ich wurde dabei wohl irgendwie übersehen. Ich habe das Handbuch nicht gelesen, und ich werde das niemals nachholen können.

    Kolumnistin Isabella steht vor einem Fenster und versteckt ihr Gesicht hinter ihren Händen

    Kolumnistin Isabella würde sich manchmal am liebsten vor der ganzen Welt verstecken. Foto: privat

    Es fühlt sich so albern an. Ich meine, es kann doch nicht so schwer sein, mit Menschen zu sprechen, oder? Sag einfach, was du denkst. Hundertmal habe ich diesen Satz gehört, tausendmal habe ich ihn mir selbst gesagt. Doch meistens klappt das nicht, denn wenn ich unter Menschen bin, kann ich plötzlich nicht mehr denken. Da ist nur Leere in meinem Kopf. Leere und Angst. Ich meide soziale Situationen. Ich sage Verabredungen mit Freund*innen ab. Ich kaufe Kleidung grundsätzlich online, damit ich in kein Geschäft gehen muss. Bevor ich den Müll runterbringe, warte ich, bis der Hausflur komplett leer ist. Nicht dass meine Nachbar*innen das noch sehen. Was daran so schlimm wäre? Keine Ahnung. Wahrscheinlich gar nichts. Aber es fühlt sich schlimm an, und genau das ist das Problem. Das ganze Problem besteht im Grunde nur darin, dass sich Dinge schlimm anfühlen, obwohl sie überhaupt nicht schlimm sind.

    Wahrscheinlich gibt es deshalb verhältnismäßig wenig Verständnis für meine Krankheit, wahrscheinlich wird sie deshalb so oft mit Schüchternheit verwechselt: Meine Ängste, meine Probleme, meine Gedankengänge sind rational nicht wirklich greifbar, nicht einmal für mich. Es ergibt keinen Sinn, dass ich spät abends das Licht in meiner Wohnung nicht anschalte, weil ich nicht will, dass meine Nachbar*innen durch das kleine Fenster in der Tür sehen, dass ich zu Hause bin. Oder dass ich mich schäme, in der Tram, der Uni oder auf der Straße laut zu lachen. Oder dass es mich lange Zeit extrem viel Überwindung gekostet hat, in die Mensa zu gehen, weil der Gedanke, dass andere Menschen mich essen sehen, mir den Magen umdreht.

    Aber irgendwann habe ich es geschafft. Irgendwann war ich in der Mensa, und seitdem wird es mit jedem Mal ein bisschen weniger schlimm. Ich habe herausgefunden, dass es tatsächlich Wunder wirken kann, sich selbst so viel mit sozialen Situationen zu konfrontieren wie möglich. Tatsächlich ist das das Einzige, was hilft. Manchmal habe ich das Gefühl, die Leute denken, es liegt an ihnen. Dass es mir schwer fällt, mit ihnen zu sprechen, weil ich sie nicht mag oder ihnen nicht vertraue. Dabei hat das damit nichts zu tun. Egal, wie toll ich einen Menschen finde, egal, wie wohl ich mich bei ihm*ihr fühle – die Blockade in meinem Kopf bleibt. Nur Übung hilft: Noch ein Interview mehr als nötig, schaden kann es ja eh nicht. Einkaufen gehen im größeren, volleren Supermarkt. Heute nehme ich mal nicht die Selbstbedienungskasse. Ja sagen zur Chefredaktion. Referate halten. Übung macht den*die Meister*in. Ich will jetzt mutig sein.

    Ich habe in den letzten Jahren – seit meinem Abitur, um genau zu sein – riesengroße Schritte gemacht, das weiß ich genau. Es fühlt sich nicht immer so an. Wenn ich weinend in meinem Bett liege, weil ich mich so sehr dafür schäme, schon wieder eine Verabredung abgesagt zu haben, dann bin ich nicht mutig. Ich bin auch nicht stark. Aber vielleicht muss ich das auch gar nicht immer sein. Vielleicht haben wir alle ein Recht auf unsere Schwäche. Mit einer sozialen Angststörung zu leben, hat viel mit Akzeptanz zu tun – vor allem mit der Akzeptanz der eigenen Fehler. Wahrscheinlich gilt das für das ganze Leben. Ich glaube nicht, dass ich das Handbuch jemals vollständig gelesen haben werde. Vielleicht tut das aber eh niemand.

     

    Bild: Pixabay

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