Eine unerwartete Freundschaft
Geschwister zu haben ist eine sehr individuelle Erfahrung. Kolumnist Leen berichtet über die veränderte Beziehung zu seinem kleinen Bruder.
Schon zum dritten Mal klingelt heute mein Handy. Ich muss gar nicht aufs Display schauen und frage gespielt genervt: „Na, was gibt’s denn diesmal?“
Ich habe eigentlich keine gute Beziehung zu meiner Familie, einerseits aufgrund meiner queeren Identität, welche immer noch nicht aktiv unterstützt wird, und andererseits wegen Ereignissen aus der Vergangenheit. Viele Situationen im Umgang mit ihnen sind anstrengend und lösen unschöne Gefühle in mir aus. Mit meiner Mutter habe ich mich in der Regel am meisten verstanden und mein Umzug hat die Verhältnisse im Allgemeinen etwas entspannt. Ich habe aber eine viel überraschendere Veränderung bemerkt. Seit einigen Wochen ruft mich mein kleiner Bruder täglich an.
Anfangs fand ich es verwunderlich und war ehrlich gesagt auch etwas genervt davon, dass es teilweise sehr inhaltslose, drei Minuten lange Anrufe waren und auch manchmal noch sind. Jetzt freue ich mich jeden Tag darüber und frage mich, was er mir diesmal zu erzählen hat.
Es geht von „Ich singe dir jetzt etwas vor und du musst den Film erraten“ bis zu „Ich verstehe meine Hausaufgabe in Soziologie nicht“ und „Denk daran, nicht schon wieder die Switch zu vergessen, wenn du nach Rostock kommst, okay tschüss“ (Als würde ich mich daran in zwei Monaten erinnern).
Als wir beide einige Jahre jünger waren, war er, um es milde auszudrücken, eine sehr sehr anstrengende Person für mich. Immer wenn ich Besuch dahatte, ist er reingekommen und hat irgendwelche Kissen oder andere Gegenstände in mein Zimmer geworfen. Oft hat er Schokolade, die ich versteckt habe, aufgegessen, als ich weg war. Lauter Dinge, die sicherlich nicht unüblich sind für jüngere Geschwister, aber es hat ihn definitiv nicht beliebt gemacht bei meinen Freund *innen und ich hatte auch nicht das größte Interesse daran, meine Freizeit mit ihm zu verbringen. Meine Vermutung war, dass er zwar ruhiger werden würde mit dem Alter, aber auch desinteressierter an mir. Unsere jetzige Beziehung hätte ich mir nicht vorstellen können.
Würde ich meinem Ich vor drei Jahren erzählen, dass unser kleiner Bruder derjenige aus der Familie ist, der mein Dasein als trans* Person am meisten unterstützt, hätte ich meinem jetzigen Ich lachend den Vogel gezeigt. Ich habe meinen deadname schon lange nicht mehr aus seinem Mund gehört und weiß auch, dass er ihn nicht heimlich gegenüber anderen erwähnt. Der Rest meiner Familie kommt zwar auch langsam mit meinem Namen zurecht, aber benutzt selten die richtigen Pronomen. Selbst wenn mein kleiner Bruder ab und zu noch einen Ausrutscher hat, korrigiert er sogar meine Eltern, wenn sie falsche Pronomen benutzen. Diese starke Unterstützung, diese Verlässlichkeit, dass er für mich einsteht und andere in meinem Namen auf Fehler hinweist, habe ich nicht mal bei meinen engsten Freunden.
Ich finde es spannend, dass ich meine Geschwister zwar auf eine Weise kenne, wie niemand anderes, aber in diesem Fall trotzdem nicht weiß, was im Inneren meines kleinen Bruders passiert ist, dass er sich so zum Positiven entwickelt hat. Statt den ganzen Tag Ärger zu machen, fällt mir jetzt auf, dass er viele Probleme entwickelt, die ich auch habe. Klar musste das so kommen, wir beide wurden schließlich von denselben Eltern aufgezogen. Außerdem musste ich früher oft die Verantwortungen meiner Eltern übernehmen und habe mich um ihn gekümmert, wenn sie dabei versagten. Das hat wahrscheinlich auch die Basis für unser heutiges Band geschaffen. Schlimme Zeiten gemeinsam durchzustehen, schweißt ungeheuer zusammen.
Er kann mir zwar in meinen persönlichen Lebenssituationen nicht allzu gut weiterhelfen, aber muntert mich konstant auf und ist mittlerweile nicht nur mein kleiner Bruder, sondern auch einer meiner besten Freunde.
Foto: Pixabay
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