Ein Gefühl von Heimatliebe
Die vorlesungsfreie Zeit im Studium ist häufig mit einem Besuch in die Heimat verbunden. Kolumnist Eric spricht darüber, was er unter dem Begriff versteht – und warum das Dorfleben viel bieten kann.
Ich habe ein Faible für Zitate. Einerseits regen sie mich zum Nachdenken an. Andererseits geben sie mir oft ein Gefühl von positiver Ärgernis, indem ich mich frage: Warum ist mir das nicht eingefallen? Neulich stieß ich auf einen Satz von Theodor Fontane, der sagte: „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.“ Ich lebe seit mehr als einem halben Jahr in Leipzig und auch wenn dies keine Millionenmetropole wie Berlin oder München ist, kann auch hier das Leben für mich manchmal sehr herausfordernd sein. Es ist eine wahnsinnig tolle Stadt und doch bleibt es meine persönliche Fremde.
Kurzum: Ich bin ein Dorfkind.
Damit meine ich nicht, dass ich in einer 300-Leute-Siedlung aufgewachsen bin, völlig abgeschieden vom städtischen Alltagsleben. Nein, ganz im Gegenteil. Mit mehr als 1.200 Einwohner*innen würde ich doch schon von einer größeren Ortschaft sprechen. Eine Kommune, welche mit einer Grundschule, einem Zahnarzt und neuerdings auch einem griechischen Restaurant (sehr empfehlenswert) als sehr belebt gelten kann. Ein Ort, wo selbst die Bahnverbindungen nicht allzu schlecht sind und welcher ein tolles Vereinsleben bietet. Es gibt sogar einen Supermarkt, der mehr als nur Dosenravioli oder Zwieback aufweisen kann. Um es anders auszudrücken: Ich kann mich nicht beschweren. Dennoch fühlt sich jede Großstadt für mich wie ein kleiner Kulturschock an – auch wenn ich nicht weiß, was es heißt, als „Naturmensch“ aufzuwachsen.
Es fängt schon damit an, dass für mich jeder Einkauf eine Herausforderung darstellt. Wo früher die Auswahl begrenzt war, muss ich mir plötzlich entscheidende Fragen stellen. Ach, so etwas gibt es zu kaufen? Brauche ich das wirklich? Meinem studentisch ohnehin gebeutelten Portemonnaie tut diese Auswahl ohnehin nicht gut. Diese leichte Überforderung wird durch innere Wutanfälle ergänzt. Wenn mich, auf dem Fahrrad gegen jegliche Wettereinflüsse kämpfend, zum x-ten Mal jemand von „Lieferando“, „Flink“ und Co. mit E-Bike überholt und keine einzige Schweißperle verlieren muss, hebt das schon mein Aggressionspotenzial! Auch das Schlafengehen kann sehr herausfordernd werden. Mit offenem Fenster die Nacht verbringen (gerade bei sommerlichen Temperaturen eine Wohltat) scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Vor allem, wenn eine mit Intelligenz gesegnete Person meint, um 23 Uhr mit vollaufgedrehter Musikbox durch die Straßen zu ziehen.
Bevor der Text jedoch zu einer Wutrede gegen städtischen Lärm und Idiotismus verkommt: Ja, auch ich genieße die Möglichkeiten, die mir geboten werden. Wann hat man schon die Möglichkeit, nochmal spontan seinen Kühlschrank aufzufüllen? Oder abwechslungsreiche Kulturangebote wahrzunehmen? Was gibt es Besseres, als jegliche Klischees des Student*innen-Lebens zu erfüllen? Sei es auch nur, sich in die Universitätsbibliothek zu setzen, um den produktiven Schein zu wahren. Das Stadtleben: unzählige Möglichkeiten der Selbstverwirklichung – die gleichzeitig erdrückend wirken können. Hier manifestiert sich für mich der von Hartmut Rosa geprägte Begriff des „Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus“. Manchmal habe ich das Gefühl, das Stadtleben macht uns glücklicher, wenn man schon glücklich ist, und trauriger, wenn man schon traurig ist.
In kindlicher Naivität dachte ich früher, die Häufigkeit echter sozialer Interaktion steigt mit der Menschenzahl an einem Ort. Es scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Meine dörfliche Angewohnheit, bei einem Spaziergang jede Person zu grüßen, egal wie fremd diese mir ist, kann ich in der Stadt nicht mehr ausleben. Zum einen würde ich mir den Mund fusselig reden. Zum anderen würde man mich für irre halten. Ich belasse es bei einem Lächeln, auch wenn ich meist Blicke der ausdruckslosesten Ausdruckslosigkeit erwidert bekomme. Entschuldigung an dieser Stelle, wie kann ich auch nur! Oft erscheint es mir, man versucht sich in der sinnüberfluteten Stadt eine eigene Welt zu schaffen, abgegrenzt durch Kopfhörer. Ganz nach dem Motto: Sprich mich bloß nicht an, ich reite gerade auf meiner eigenen künstlichen Unterhaltungswelle (und kann mein Mittagessen nicht ohne Ablenkung durch das Handy genießen).
Ich möchte das Dorfleben nicht künstlich verklären, vor allem unter dem Wissen, dass viele Kommunen von einer schlechten Infrastruktur betroffen sind. Vieles regt mich auch im Dorf auf. Es ist sicher: Kaum etwas bleibt geheim, denn der „Straßen-Stasi“ (meistens gutmütige Damen Mitte 70, versteckt hinter den Fenstergardinen) entgeht nichts. „Fake News“ können sich genau so schnell verbreiten wie im Internet, wenn beispielsweise eine Person fälschlicherweise für tot erklärt wird (tatsächlich passiert). Man wird häufiger mit eher konservativen Meinungen konfrontiert, die im Kontrast zu der städtischen „Alternativ-Bubble“ stehen. Ja, auch der persönliche Tagesplan kann schonmal kräftig ins Wanken geraten, wenn man sich spontan mit dem oder der Nachbar*in verquatscht. Doch genau das ist es, was jedes Dorf eint: eine gewisse Spontanität, eine unverhoffte Einfachheit. Vor allem aber: ein größeres Miteinander. Dorfleben ist für mich der Antipode der städtischen Betriebsamkeit. Es bedeutet für mich Entschleunigung.
Vielleicht ist es auch einfach nur das Gefühl von Heimatliebe.
Foto: Leonhard Niederwimmer, Pixabay
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