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  • Der Mensch und die Erschöpfung

    Für einen Monat öffnete die Ausstellung „pose fatique“ den Raum für einen prozessbasierten Austausch und eine interdisziplinäre Auseinandersetzung, bei der es um mehr ging als nur den „müden Körper“.

    Das Jahr 2022 war für viele Menschen anstrengend, turbulent, bedrückend, ein Auf und Ab. Eine Zeit, in der Erschöpfung ein regelmäßiger Begleiter war und auch in diesem, noch sehr jungen Jahr, sein wird. Der Mensch wird im modernen Zeitalter mit Informationen und „Bedrohungen“ konfrontiert, die oft dauerhaft Stressreaktionen auslösen und damit einhergehend auch Phasen der Kraftlosigkeit, heute mehr mentaler als physischer Art.  

    „Die Begriffe Erschöpfung und Müdigkeit sind heutzutage in unserem Vokabular, was früher vielleicht nicht so der Fall war“, sagt Laurie Young. Sie ist Choreografin sowie Performerin und nahm zusammen mit der Künstlerin Anike Joyce Sadiq den erschöpften Körper als Ausgangspunkt für ihre Arbeiten in der Ausstellung „pose fatique“. Von November bis Dezember des vergangenen Jahres gab dabei der Kunstraum D21 Leipzig die Möglichkeit, sich bewusst mit dem Zustand der Erschöpfung auseinanderzusetzen. Was passiert, wenn dieser Zustand nicht abgewendet, sondern genauer betrachtet wird? Ergeben sich gar neue Perspektiven? Fragen, an die angeknüpft wurden und die zum Nachdenken anregen, aber auch viel Platz bieten, diesen Zustand zu konzeptualisieren. Bei der Darstellung der Thematik hatten die Künstlerinnen dabei einen großen Gestaltungsspielraum, wie auch Elisabeth Pichler, Kuratorin der Ausstellung, unterstreicht: „Das Konzept der Ausstellung hat sich gemeinsam mit den Künstlerinnen entwickelt“, womit also eine geringe Rahmung für die subjektive, künstlerische Entfaltung gesetzt worden wäre.  

    Zentrale Elemente der Ausstellung waren dabei die sogenannten „embracements“ als künstlerische Darstellung des Erschöpfungszustandes, welche dazu einluden, sich auch körperlich damit auseinanderzusetzen.  „Das Spezifische an den Skulpturen ist, dass sie mit Anikes Körper und Geist, mit ihren Erfahrungen der Erschöpfung, kreiert wurden“, sagt Young.  Die Ausstellungsstücke sollen dabei den Zustand der Ermüdung einfangen und manifestieren.  

    Ergänzt wurden die „embracements“ dabei durch Sadiqs Video- und Soundarbeit „Visited by a Tiger“, bei der eine Faust als Modell für das menschliche Gehirn verwendet wird und gleichzeitig ein Symbol für den Kampf, Widerstand und Solidarität ist. In der Arbeit wird eine neurobiologische Erklärung zum Thema Emotionen und Stress mit einem emotionalen Bezug zu Traumata durch Rassismus-Erfahrungen und Exklusion verknüpft. Dabei hebt Sadiq die bei Bedrohungen entstehenden psychischen Konflikte hervor, die im Gehirn bestimmte Signale auslösen. Der Titel „Visited by a Tiger“ bezieht sich deshalb auf die natürliche Abwehrreaktion des Menschen und wird metaphorisch auf heute dominierende Bedrohungen übertragen, vor allem emotionaler Art.   

    Es gehe also „nicht nur um die allgemeine Erschöpfung, wie sie in der Gesellschaft erlebt wird, sondern auch um die Erschöpfung in Bezug auf das Anderssein oder Rassismus“, unterstreicht Young. Dieser Aspekt bildet auch einen bedeutenden Anhaltspunkt der Ausstellung: die Auseinandersetzungen mit kolonialem Erbe und systemischer Gewalt. Unter diesem Blickpunkt entwickelten Young und Sadiq im Verlauf der Ausstellung gemeinsam mit den Künstlerinnen leo und Melody House einen prozessbasierten Austausch, bei dem sie Èdouard Glissants Konzept des „trembling thinking“ als Bezugspunkt nahmen. Es geht dabei vor allem um die Intuition, geschlossene Kategorien und imperiales Denken abzulehnen. Die Künstlerinnen stellten sich die Frage, inwiefern sie ihr unterschiedliches Verständnis des Konzepts in einem künstlerischen Austausch verbinden konnten, welcher Elemente ton-, installations- und bewegungsbasierter künstlerischer Arbeiten enthielt. Der D21 Kunstraum hat sich in dem Zeitraum der Ausstellung zu einer Art kreativen Labor entwickelt, bei dem nicht nur die statischen Elemente im Fokus standen, sondern vor allem das aktive Erleben, die Erfahrung und die bewusste Auseinandersetzung mit dem Erschöpfungszustand, aber auch dem postkolonialen Denken.  

    Wollte die Ausstellung eine Antwort für ein entspannteres und leichteres Leben geben? Nein, denn „das Ziel war nicht, eine Lösung für mehr Resilienz zu finden“, sagt Young und bringt dabei den Kern der Ausstellung auf den Punkt. Es ging nicht darum, eine Anleitung für ein einfaches Leben zu entwickeln, an der man sich im Notfall orientieren kann. „Es geht darum, diesen Erschöpfungszustand irgendwie auszuhalten und zu schauen, was aus dieser wackligen Position heraus passiert“, meint Elisabeth Pichler. Denn ein Patentrezept für belastende Probleme jeglicher Art gibt es nicht und wird es auch nie geben. Der Erschöpfungszustand muss betrachtet und wahrgenommen werden – und darf sich nicht zu einem Dauerzustand entwickeln.  

     

    Fotos: Eric Binnebößel

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