Bücher machen Leute
Kolumnistin Laura hat über 300 Bücher auf ihrer Leseliste stehen. Wieso das eine Lebenskrise bedeuten kann, aber nicht muss.
Seit der elften Klasse hängt an meiner Wand eine Leseliste. Genau genommen hängt sie nicht mehr an derselben Wand – ich bin seitdem zwei Mal umgezogen. Aber sie begleitet mich immer noch. Erst seit kurzem nehme ich ihr das nicht mehr übel.
Ich kann es nicht leiden, wenn Dinge nicht fertig werden. Irgendwie setzt mich das unter Druck. Ich brauche zwar immer irgendetwas zu tun, aber ich habe gern das Gefühl, dass ich einen Überblick darüber habe, vielleicht sogar Kontrolle. Meine Leseliste ist definitiv etwas, was ich nicht unter Kontrolle bringe.
Zuerst wollte ich nur die wichtigsten deutschen und auch ein paar englische Klassiker lesen. Also habe ich gegoogelt. Das war mein erster Fehler. „Deutsche Klassiker“, habe ich in die Suchmaschine eingegeben. Eine Empfehlungsliste von Marcel Reich-Ranicki, vier Lektürelisten von Universitäten und dreiundzwanzig Wikipedia-Seiten von Autor*innen später war aus den zwanzig Büchern, die mir selbst eingefallen sind, bereits ein 86 Einträge starker Querschnitt vor allem deutscher Literaturgeschichte geworden. Gut. Das wäre machbar – innerhalb der nächsten drei, vier Jahre. Dachte ich damals.
Dann beging ich meinen zweiten Fehler: Ich ging in eine Buchhandlung. Eigentlich begehe ich diesen Fehler immer und immer wieder. Gerade erst letzte Woche, da war ich schon wieder in einer. Ich gehe also in Buchhandlungen, um endlich mal ein paar Einträge von der Liste abzuarbeiten oder eine Bestellung abzuholen. Manchmal schlendere ich sogar ganz aus Versehen hinein, wenn ich ein bisschen Zeit habe. Nur, um zu gucken, nicht, um zu kaufen.
Aber die Ecke mit den Klassikern ist so weit hinten. Also komme ich vorbei an Stapeln mit neuerer Literatur, die nicht besonders ansprechend aussieht und… „Oh. Das da sieht aber doch ganz interessant aus.“ Buch nehmen, umdrehen und… Verdammt. Der Klappentext ist auch noch spannend. „Na gut, dann nehme ich das mal mit. Dass ich eigentlich eine Bestellung von fünf Büchern abholen wollte? Ach so, na ja. Irgendwann sind die aber doch auch gelesen und dann brauche ich etwas Neues, oder nicht? Eben.“
Während meiner ersten vier Semester Philosophie hatte ich für die Uni dann so viel zu lesen, dass ich kaum noch privat Bücher geschafft habe (was nicht bedeutet, die Liste wäre nicht mehr gewachsen). Aber vor ungefähr einem Dreivierteljahr wollte ich das endlich ändern. Ich habe versucht, mich dazu zu bringen, wieder mehr privat zu lesen. Irgendwann will ich diese ganzen großartigen Bücher wirklich durchgeschmökert haben. Also habe ich einen Buch-Account auf Instagram eröffnet, um meine Rezensionen zu teilen, und tracke jetzt, wie viele Seiten ich pro Tag schaffe.
Im Prinzip funktioniert das sehr gut. Ich lese mehr privat und poste meine Meinung zu den abgeschlossenen Werken. Trotzdem würde ich behaupten: In Bezug auf meine Leseliste war Bookstagram mein dritter Fehler. Denn natürlich lesen Leute, was ich rezensiere, und natürlich lese ich, was andere bewerten. Das ist dann fast wie in den Buchhandlungen: „Oh, das sieht aber spannend aus. Ich packe es mal auf die Liste.“
Diese Liste ist im Augenblick 393 Bücher lang. Sie umfasst nicht mehr nur deutschsprachige Autor*innen und ist schon lange nicht mehr auf Klassiker beschränkt. Als ich das vor ein paar Wochen das erste Mal gezählt habe – 393 Bücher –, konnte ich es nicht glauben. „Wann soll ich das denn alles lesen?“, habe ich gedacht. Und: „Das schaffe ich im Leben nicht. Da kommt doch immer mehr dazu – es hören ja nicht plötzlich alle Autor*innen auf, gute Ideen zu haben und Bücher zu schreiben, weil ich 393 Bücher auf der Liste habe.“
Bei mir ist eine kleine Identitätskrise ausgebrochen. Ich habe mich gefragt, wozu ich überhaupt lese, ob man im Leben wirklich jemals mit irgendetwas wirklich fertig ist, und wenn nicht, warum ich dann mit irgendetwas anfange. Während ich mich also in dieser Krise befand, haben andere Leser*innen auf Bookstagram gepostet, dass sie im letzten Monat dreiundzwanzig Bücher gelesen haben. Das hat selbstverständlich unglaublich gutgetan und mich nicht noch mehr unter Druck gesetzt.
Ein paar Tage lang habe ich weder gelesen noch Bücher auf meine Liste geschrieben und alles auf die Prüfungsphase geschoben. Aber irgendwie hatte ich dann plötzlich doch wieder ein Buch in der Hand.
Spätestens, als ich den Deckel dieses Buchs zugeklappt habe, war mir klar, dass das alles völlig egal ist. Ich lese nicht, um irgendeine Liste abzuarbeiten. Ich lese, weil es mir unendlich viel Freude bereitet. Weil es so viele hervorragende Ideen und sprudelnde Geister da draußen gibt. Weil mir dabei klar wird, wie bunt und vielfältig unsere Welt ist, wie tiefschichtig wir zu denken vermögen und wie großartig Worte und Sprache sind. Ich liebe es, mich auszudrücken und zu lesen, wie andere das tun. Ich fühle mich dabei weniger allein und verstehe mich selbst durch diese Bücher ein bisschen besser.
Jetzt hätte ich meine Liste von der Wand reißen und zerknüllen und immer einfach das nächste Buch im Laden aussuchen können. Aber ich habe es nicht getan. Ich habe nur gelächelt und sie genau da gelassen, wo sie ist. Zumindest ungefähr 30 Minuten, dann musste ein neues Buch ergänzt werden.
Mittlerweile halte ich es für großartig, wie lang diese Liste ist. Jetzt ist sie für mich ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, wie viel noch zu entdecken und zu erleben ist und wie viel Hoffnung ich haben darf, dass der Welt niemals die Ideen ausgehen.
Fotos: privat
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.