Eine existenzielle Verflechtung
Sie gelten als „Zwillingskrisen“: der Klimawandel und der Biodiversitätsverlust. Jedoch sind in der Wissenschaft die Zusammenhänge noch nicht vollends erforscht und es gibt viele Fragezeichen.
Als der chinesische Umweltminister Huang Runqiu eilig das Abkommen für biologische Vielfalt für angenommen erklärte, konnte man das Aufatmen der Delegierten aus den rund 200 Ländern und den Vertreter*innen der Umweltorganisationen wohl bis an die entlegensten Winkel unseres Planeten hören. Ein mehr als neunstündiger Verhandlungs-Krimi fand damit sein Ende und so auch ein zähes Ringen um Geld. Am Ende wurden 23 neue Ziele für den Artenschutz beschlossen, in denen unter anderem 30 Prozent der Landes- und Meeresflächen geschützt sowie umweltschädliche Subventionen abgebaut werden sollen.
Beim Artenschutz gehe es darum, ob die Menschen überleben können, beim Klimawandel, wie sie es tun, sagte die Biologin Katrin Böhning-Gaese in einem Interview mit dem Spiegel. Auch wenn der Biodiversitätsgipfel in Montreal Ersteres in den öffentlichen Fokus rückte, bekam die Klimadebatte in der Vergangenheit eine größere Aufmerksamkeit. Dabei bedingen sich beide Krisen und sind untrennbar miteinander verbunden.
Der Ist-Zustand
Nach einem Bericht des Weltbiodiversitätsrats aus dem Jahr 2019 sind in den kommenden Jahren und Jahrzehnten von den etwa acht Millionen Tier- und Pflanzenarten circa eine Million Arten vom Aussterben bedroht. Manche Experten sprechen vom sechsten Massenaussterben der Geschichte. Davon sei auch Europa betroffen: Laut der Weltnaturschutzkommission sind mindestens 1.677 von 15.060 bewerteten europäischen Arten bedroht. Dazu zählen beispielsweise 58 Prozent aller endemischen Baumarten Europas (Stand: 2019). Demnach verschlechtere sich der Zustand zunehmend, da das Artensterben heutzutage um mindestens dutzende bis hunderte Male größer sei als der Mittelwert der vergangenen zehn Millionen Jahre. Diese Entwicklungen seien auch für den Menschen negativ, da die biologische Vielfalt und funktionierende Ökosystemleistungen für die menschliche Existenz essenziell seien.
Biodiversitätsverlust – mehr als „nur“ Elefant, Tiger & Co.
Wenn man an den Verlust von Arten denkt, kommen uns gewöhnlich die Bilder von Eisbären in den Sinn, deren Lebensraum dahinschmilzt. Man denkt an abgestorbene Bäume, die den klimatischen Bedingungen zum Opfer gefallen sind oder an die unzähligen Meeresbewohner, die dem vom Menschen verursachten Müll zum Opfer fallen. Diese Fälle sind traurig, oft grausam. Sie wirken für die breite Masse greifbarer. Doch diese Beispiele stellen nur einen kleinen Ausschnitt aus diesem komplexen Themenfeld dar.
„Biodiversität heißt nicht nur die reine Anzahl von Arten. Eine Dezimierung der Biodiversität heißt auch, dass eine bestimmte Funktion ausfällt. Diese Funktion kann mitunter für das gesamte Ökosystem wichtig sein“, erklärt Miguel Mahecha vom Fernerkundungszentrum für Erdsystemforschung (RSC4Earth) der Universität Leipzig und des Umweltforschungszentrums. Zusammen mit weiteren Wissenschaftlern machte er in einem Kommentar im Magazin Nature („Biodiversity loss and climate extremes – study the feedbacks“) auf die Erforschung des Biodiversitätsverlusts und von Klimaextremen aufmerksam.
Mit dem Artenverlust geht eine erhebliche Einschränkung der Funktionalität des Ökosystems einher. Wenn beispielsweise eine bestimmte Pflanzenart im Ökosystem ausfällt, kann diese auch nicht mehr ihre spezifischen Funktionen ausfüllen – und diese können vielfältig sein. So fällt darunter die Mobilisierung von Nährstoffen, die wiederum für andere Pflanzen wichtig sein könnten. Auch die Speicherung von Kohlenstoffdioxid, die Absorption von Verschmutzungen, die Temperaturregulation oder die Stabilisierung von Hängen durch Wurzeln sind spezifische Aufgaben. Eine Einschränkung bedeutet daher auch, dass ein Ökosystem weniger widerstandsfähig gegenüber Einflüssen wie Hitze oder Krankheitserreger ist oder weniger effizient Nährstoffe aufnehmen kann. Daraus ergibt sich auch die Bedeutung einer hohen Artenvielfalt: Mit einer großen funktionellen Vielfalt kann das Ökosystem effektiver auf äußere Einflüsse reagieren. Wie Mahecha unterstreicht, ist das ganze Ökosystem „mit vielen verschiedenen Redundanzen resilienter gegenüber externen Faktoren“. Zu diesen Faktoren gehören auch Klimaextreme.
Warum ist die Erforschung dieses Themenfeldes so komplex?
Die von den Arten erfüllten Funktionen sind vielfältig und stehen in einem engen Zusammenhang mit anderen Arten in einem Ökosystem. Nimmt man den Klimawandel mit seinen Folgewirkungen als externen Faktor, wirkt dieser wesentlich auf die verschiedenen Organismen ein. Durch diese veränderten Lebensbedingungen können die Lebewesen ihre spezifischen Funktionen nicht mehr oder nur eingeschränkt erfüllen. Es gilt dabei: „Der Klimawandel beeinflusst jede Art individuell. Da alle Arten im Netzwerk mit einander verbunden sind, hat auch jede Art auf eine andere eine indirekte Wirkung. Diese indirekten Effekte sind oft wesentlich stärker, als die direkten“, sagt Ulrich Brose, Professor für Biodiversitätstheorie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitglied im Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv).
Diese indirekten Wirkungen machen es daher auch schwer, Kausalbeziehungen herzustellen. So treten durch die enge Beziehung der Lebewesen in einem Netzwerk „Rückkoppelungseffekte auf, die wir nur zum Teil überschauen können und in vielen Klimamodellen noch nicht erfasst sind“, verdeutlicht Mahecha. Zum anderen gelte dabei auch, dass „der Biodiversitätsverlust von mehreren Stressoren abhängt, nicht nur vom Klimawandel. Dadurch ist der Verlust der Artenvielfalt gleichzeitig komplexer“, sagt Brose. Diese Verflechtungen in einem Netzwerk und die Abhängigkeit von mehreren externen Faktoren sind wesentliche Gründe, warum nach Mahecha „bei einer Dezimierung der Biodiversität die Folgewirkungen vielfältig und unverstanden sind“.
Warum wurden diese Probleme nicht früher untersucht?
Das Themenfeld ist also sehr komplex und bietet viele Anhaltspunkte, die es zu erforschen gilt. Deshalb stellt sich die Frage, warum die Forschung bisher im Rückstand ist. Mahecha meint, die Probleme „waren in der Vergangenheit bekannt, es haben jedoch die Mittel gefehlt, damit umzugehen. Zum anderen haben lange auch disziplinäre Grenzen eine Rolle gespielt, einzelne Forschungszweige haben lange nicht eng miteinander kommuniziert.“ Der zweite Grund ist dabei auch ein wesentliches Anliegen des im November des vergangenen Jahres publizierten Kommentars. Man sei in der Vergangenheit selektiv in der Erforschung vorgegangen. Das können die Klimatologie und Meteorologie aus der Physik oder die Biodiversitätsforschung aus der Biologie sein: Die einzelnen Forschungszweige hätten ihre eigenen Methoden verwendet, oft isoliert voneinander ihre Forschungen betrieben und eher lokal gedacht. Jedoch seien die Zusammenhänge zwischen Artenvielfalt und externen Faktoren wie dem Klimawandel sehr vielfältig. Aus diesen Gründen müsse dabei themenübergreifend gearbeitet werden, wobei Mahecha hier schon einen Umbruch erkannt hat. So sei schon im Studium ein interdisziplinärer Überblick notwendig. Das heißt, es sollten beispielsweise in der Klimatologie schon Grundlagen der Biodiversitätsforschung (und umgekehrt) gelegt werden.
Deshalb gibt es auch an der Universität Leipzig einen Studiengang im Master namens „Earth System Data Science and Remote Sensing“, welcher Technologien und Methoden der umweltbezogenen Datenwissenschaften und Fernerkundung behandelt und dabei gezielt Studierende aus den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen anspricht. Der Studiengang ist dabei inhaltlich verbunden mit dem RSC4Earth und kooperiert unter anderem auch mit dem iDiv.
Das UN-Artenschutzabkommen: der Weisheit letzter Schluss?
Der Mensch erforscht den Zusammenhang von Biodiversität und den verschiedenen externen Faktoren. Gleichzeitig ist auch konkretes Handeln und Umsetzen der Forschungsergebnisse gefragt. Denn „der Mensch wirkt sich sehr stark auf die Netzwerke aus, im Grunde gibt es keine Netzwerke mehr ohne den Menschen“, verdeutlicht Ulrich Brose. Da wären wir also wieder bei der Politik und den konkreten Beschlüssen. Die eingangs erwähnten Ziele wurden von vielen Ländern bejubelt. Wird jetzt alles gut? Eine Prognose lasse sich wohl nicht schließen. Zum einen seien noch viele Mechanismen zu erforschen und es bildeten sich deshalb immer wieder neue Erkenntnisse. Andererseits sei das Problem „die Umsetzung der Abkommen und das Fehlen ihrer Verbindlichkeit“, sagt Miguel Mahecha. Ziele und Abkommen sind nur so lange sinnvoll, wie man auch versucht, diese einzuhalten. Denn formale Abkommen interessieren die einzelnen Arten im Ökosystem wenig. Da kann man sich noch so oft auf die eigene Schulter klopfen.
Foto: Pixabay
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