„Wenn du eine Extrarunde chillst, brauchst du dich nicht schlecht fühlen“
Am ersten Tag der Leipziger Buchmesse hat Nadia Shehadeh aus ihrem Buch „Anti-Girlboss“ gelesen. Im luhze-Interview hat sie darüber gesprochen, wie sie den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen will.
„Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen.“ Das verspricht der Untertitel von „Anti-Girlboss“, dem ersten Buch der Autorin, Kolumnistin und Soziologin Nadia Shehadeh. Seit 2010 bloggt sie als „Shehadistan“ zu Feminismus, Rassismus und Popkultur und ist unter diesem Pseudonym auch in diversen weiteren sozialen Netzwerken unterwegs. Anlässlich der Leipziger Buchmesse hat Shehadeh am Donnerstag um 21 Uhr im Café Puschkin aus ihrem Sachbuch-Debüt gelesen, in dem es um widerständiges Faulsein geht.
luhze: Was machst du auf dem Sofa am liebsten?
Shehadeh: Ich lasse eine Serie laufen und gucke nebenbei auf mein Handy. Oder ich spiele Nintendo Switch. Im besten Fall stundenlang. Das geht leider nicht immer.
Und von dort aus willst du den Kapitalismus bekämpfen? Marx, Engels und ihre Jünger würden sich bei deinem Anblick wahrscheinlich im Grab umdrehen. Wie erklärst du ihnen das?
Klar, Adorno würde sicher sagen: „Ja, ja, die Angestellte, die sich nach dem Feierabend mit primitiven Vergnügungen auf dem Sofa erholt, um am nächsten Tag wieder für die Arbeit gerüstet zu sein.“ Früher, als ich selber noch auf bürgerliche Narrative abgefahren bin, hätte ich das unangenehm empfunden – heute nicht mehr. „Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen“ ist natürlich ein sehr plakativer Untertitel für mein Buch. Mit Ausruhen generell wird der Kapitalismus nicht abgeschafft werden. Meine Message ist aber, dass in den Momenten, in denen wir uns mal ausruhen, ohne uns selbst zu verurteilen, wir mit unseren körperlichen und geistigen Ressourcen dem Kapitalismus in dem Moment erstmal nicht zur Verfügung stehen. Und damit kann man sich vielleicht das chronisch schlechte Gewissen, das man im Kapitalismus eigentlich ständig haben soll, abtrainieren.
Für alle, und natürlich auch für weiblich gelesene Personen, ist es widerständig, zu sagen: „Nein, ich nicht – heute nicht.“ Wir neigen nicht nur im Bereich Lohnarbeit, sondern auch im Privatleben zu einer Dauerproduktivität, die gefühlt nie richtig sein kann, weil immer gerade das vermeintlich Falsche gemacht wird. Trotzdem gibt es hier noch ein sehr klares Verständnis davon, wer „faul sein“ darf und wer nicht. Cis-Männer, vor allem in hetero-Settings, können von der Arbeit nach Hause kommen und völlig d’accord damit sein, einfach direkt aufs Sofa zu gehen. Reiche Leute können von ihrem Reichtum leben, ohne dass ihnen unterstellt wird, sie seien „Deutschlands frechste Arbeitslose“. Und bei vielen Menschen, die Care-Arbeit verrichten – und auch das sind sehr oft weiblich gelesene Personen – rechnet man ständig damit, dass sie dauernd und unbezahlt ihre Ressourcen zur Verfügung stellen. Da ist so ein krasses Ungleichgewicht, wie Arbeit bewertet wird und wer überhaupt das Recht darauf hat, „faul“ zu sein.
Mit dem Buch will ich auch eine praktische feministische Anleitung geben, wie man sich aus dem System herauszieht. So plump es sich anhört: Wenn du eine Extrarunde chillst und Videospiele spielst oder auf deinem Handy daddelst, brauchst du dich nicht schlecht fühlen, sondern das kann auch ein widerständiger Akt sein.
Das heißt, ein*e perfekte*r Anti-Girlboss ist ein fauler Sack?
Schwierig, denn auch viele Männer, die ich kenne, sind keine faulen Säcke – und ich schreibe ja auch im Buch, dass jede*r ein Anti-Girlboss sein kann – egal ob Mann oder Maus. Anti-Girlboss heißt vor allem, dass man sich von der Idee verabschiedet, dass Menschen alles schaffen können, wenn sie sich einfach nur anstrengen. Und einfach klar ist, dass Girlboss-Thesen oder eben neoliberaler Feminismus einfach immer einen Mythos bereitgestellt haben, der versprochen hat: „In diesem ungerechten System kannst du es schaffen, wenn du die Möglichkeiten nutzt, die dir geboten werden. Wenn du dir endlich mal bewusst machst, was du kannst, und es gewinnbringend einsetzt.“
Es gab in den letzten Jahren immer mal wieder solche Bücher wie „Lean In“ von Sheryl Sandberg, „Girlboss“ von Sophia Amoruso, wo genau das vertreten wurde: dass es vielleicht Ungleichheiten gibt, man die aber wunderbar durch wirtschaftlichen Erfolg aushebeln und dann sogar die Welt besser machen kann – für andere Frauen. Das sind Versprechungen, die sich sowieso erstmal nicht bewahrheitet haben, sondern einfach Konkurrenzdruck fördern und Ungleichheiten weiter zementieren. Die Dethematisierung von Armut und das Verschleiern sozialer Missstände haben bisher noch keine Gesellschaft besser gemacht.
In Deutschland haben wir immer noch eine der höchsten Schichtvererbungsquoten in Europa, keine herausragende soziale Mobilität, sehr ungleiche Bezahlungen in verschiedenen Branchen und ein Gefälle zwischen akademisierten und nicht-akademisierten Berufen. Die Zugänge zum Arbeitsmarkt sind nicht für alle gleich. Es gibt Personengruppen, die nicht einfach so ohne Weiteres arbeiten oder sich ausbilden lassen dürfen, wie sie möchten, wie zum Beispiel Geflüchtete mit sehr schlechtem Aufenthaltsstatus. Oder den Bereich der Werkstätten für Menschen mit Behinderung, wo man nicht immer so ohne Weiteres rauskommt, wenn man etwas auf dem ersten Arbeitsmarkt machen möchte. Außerdem gibt es viele Ausbeutungsbranchen. Es ist also letzten Endes auch ein sehr intersektionales Feld, das Teilhabe sehr ungerecht regelt – und sehr mit Klassenunterschieden aufgeladen. Damit hängt die Verteilung von Kapital zusammen – nicht nur was das Finanzielle betrifft, sondern auch symbolisches Kapital, was den Status verschiedener Berufe betrifft. Und dann kommen, gerade wenn man über Frauen spricht, Sachen wie der Gender Pay Gap und die Prognosen zur Altersarmut dazu.
Diese Dinge müssen politisch gelöst werden, auch durch Gesetze. Nichts wird sich verbessern, indem man sagt: „Ich mache einfach selbst Karriere und dann kann ich das in der Firma, in der ich bin, für alle ein bisschen netter machen und damit für andere die Türen öffnen.“ Dafür ist das System zu mächtig. Solche strukturellen Veränderungen könnten immer dann passieren, wenn es einen Trend oder Leidensdruck gibt. Ein Leidensdruck im Moment ist der Fachkräftemangel.
Und du rufst außerdem den neuen Trend ins Leben?
Nein, ich habe den Trend nicht ins Leben gerufen. Es gibt ganz viel populärwissenschaftliche Literatur dazu: Sara Weber mit „Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?“, „Work Won’t Love You Back“ von Sarah Jaffe, „Die schlechteste Hausfrau der Welt“ von Jacinta Nandi – die Liste ist endlos. Und das Internet ist auch voll mit Memes von Leuten, die einfach keinen Bock mehr auf Hustle haben. Der Trend ist also schon längst da.
Diese populärwissenschaftliche Literatur ist trotzdem auch eine Nischenliteratur. Wie massentauglich ist dein Konzept?
Das individuelle Versprechen „Du kannst es schaffen“ verspricht eine Selbstwirksamkeit, die natürlich verführerisch ist. Ich gucke mir auch alle möglichen Youtube-Videos an, in denen Tipps gegeben werden, wie man besser entrümpeln kann oder in den Tag startet. Das sind ja auch Selbstoptimierungs- und Selbstdisziplinierungsbotschaften, egal wie nett die verpackt sind. Das Attraktive daran ist, dass man für einen Moment glauben kann, dass man in einer sehr unberechenbaren Welt, die ständig Unsicherheiten produziert, die Kontrolle behalten kann – zum Beispiel, wenn man morgens schon Zitronenwasser trinkt, um fit und leistungsfähig zu sein. Das ist leicht umsetzbar, hört sich logisch an – und gibt Sicherheit. Das sind ganz viele Mikrobotschaften, die einem Halt geben können. Wobei ich jetzt, ein paar Wochen nachdem das Buch erschienen ist, natürlich schon merke, dass viele sich in meinen Geschichten wiederfinden. Trotzdem ist es ist bei dezidiert feministischer Literatur ja generell so: Oft bleibt sie ein bisschen nischig – auch wenn es natürlich Megaseller gibt.
In deinem Buch schreibst du, dass du lange versucht hast, „den Richtigen“ zu finden. Den einen Job mit den richtigen Inhalten, dem richtigen Gehalt und dem ganz großen Spaß. Was steckt hinter der Erzählung vom Traumjob?
Als ich das Buch geplant und geschrieben habe, habe ich mir gedacht: Die meisten Frauen, die ich kenne, machen ganz normale Jobs. Ich ja auch. Welche Karriere soll das schon sein, wenn man eine Angestellte ist? Und auch ich, die neben meinem normalen Day Job schon sehr spannende Sachen gemacht hat, habe diese nie romantisiert, sondern fand es auch schrecklich, wenn ich um sechs Uhr morgens eine Radioaufnahme hatte, dafür um fünf Uhr aufstehen musste und dann auch noch die Technik nicht funktioniert hat. Horror.
Gleichzeitig wird Arbeit ständig romantisiert: Man soll seinen Job lieben und mit Passion oder Leidenschaft bei der Sache sein. Hinzu kommen fast schon monogame Mythen: Dass da draußen irgendwo „der richtige“ Traumjob ist, man aber nur einen haben darf. Und wenn man nebenbei noch was anderes beruflich machen will, muss man das mit seinem Arbeitgeber absprechen. Das alles ist so mit Erwartungen überladen, obwohl die meisten Leute wahrscheinlich nicht jeden Tag mit diesen Liebesgefühlen aufwachen, wenn sie an Lohnarbeit denken. Trotzdem werden ganz banale Einstellungen wie „Ich mach‘ gerne pünktlich Feierabend“ oder „Ich finde Wochenende gut“ fast schon skandalisiert.
In Interviews werde ich oft damit konfrontiert, dass ich dafür plädieren würde, nichts oder nur so viel wie nötig zu machen. Das ist aber Quatsch – meinen Job mache ich total gerne und habe ja auch genau deswegen das Buch geschrieben. Dass man sich beruflich angekommen fühlt und das macht, was vertraglich vereinbart ist, ist ja kein Skandal – sondern die Realität vieler Menschen. Vor allem die Realität privilegierter Menschen. Trotzdem ist es ein Aufreger. Genauso war es ja auch letztes Jahr, als ganz aufgeregt über „Quiet Quitting“ gesprochen wurde. Als ich das das erste Mal gelesen habe, habe ich gedacht: „Hui, das muss etwas mit Leuten zu tun haben, die im Job gar nichts mehr machen.“ Dabei hatte man nur festgestellt: Leute gehen zur Arbeit, haben einen Arbeitsvertrag und machen das, was abgesprochen ist. Dass es als Skandal gesehen wurde, dass Leute nicht freiwillig mit ganz viel Leidenschaft noch mehr Überstunden machen wollen und das für ganz wichtig halten, sagt relativ viel über das aus, was wir unter einer guten Arbeitsmoral verstehen.
Hattest du schon immer eine „schlechte“ Arbeitsmoral?
Dass ich sehr viel gearbeitet habe, hat mir die rosarote Brille abgenommen. Ich dachte nicht, dass ich, wenn ich mich nach dem Studium irgendwo bewerbe, in ein Leben einsteige, das besser als Freizeit ist und womit ich auch noch mein Geld verdiene – ich hatte da schon genug Jobs gesehen. Ich hatte verschiedene Bewerbungsprozesse hinter mir, habe Firmenstrukturen kennengelernt, war in ganz verschiedenen Branchen – und am Ende relativ abgeklärt. Ich hatte verstanden, dass ich als Mensch in einem Job mit meiner Komplexität und meinen Interessen niemals zu hundert Prozent erfasst werden kann. Eine Firma oder eine Institution benötigen nur Teile von mir – und das sind vielleicht 20 bis 30 Prozent, egal, wie toll der Job ist. Dass mir aber eingetrichtert wurde, dass jeder Job eigentlich nur ein Kompromiss ist, bis der „richtige“ kommt, empfand ich dann als Zusatzstress. Es ist so krass, dass man eigentlich immer darauf trainiert wird, nirgendwo in einem Job anzukommen – sondern immer höher, schneller, weiter soll. Ein ständiger Übergangskampf. Ich wollte mich aber mit dem Hier und Jetzt anfreunden – auch im Job.
Wird dir der ständige Kampf gegen den Kapitalismus mit Serienschauen und Videospielen auch manchmal zu anstrengend?
Auf jeden Fall. Ich bin auch kein Vorzeigebild davon, wie man es richtig macht und total faul ist. Im Gegenteil: Auch wenn ich keine Ambitionen habe, bin ich ein sehr umtriebiger Mensch und habe jahrelang Vollzeit gearbeitet, nebenbei gebloggt und irgendwelche Hobbys gepflegt. Meine Schwestern sagen auch immer: „Du bist eigentlich voll die Betrügerin, dass du dieses Buch geschrieben hast.“ Das stimmt irgendwie. Gleichzeitig ist es so: Wenn ich die Zeit und die Möglichkeit habe, nichts zu tun, dann mache ich das ganz passioniert. Aber das dann auch in einem Setting, in dem erstmal die Wohnung schön aufgeräumt und die Hausarbeit abgehakt ist – auch wieder so ein Selbstdisziplinierungs-Heckmeck. Es gibt einfach kein Schlupfloch – selbst für eine abgeklärte Person wie mich nicht. Aber wenn man immer wieder kritisch draufschaut, dann kann das ein bisschen helfen. Auch beim Chillen.
Foto: Makbule Keles
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.