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  • Merkel in Leipzig: Viel best of, wenig worst of

    Am 29. April stellte sich Angela Merkel im Leipziger Schauspiel den Fragen von Giovanni di Lorenzo – einer der Höhepunkte der diesjährigen Leipziger Buchmesse.

    Männer in Anzügen winden sich hektisch durch das wartende Publikum im Foyer des Leipziger Schauspiels – eilen von links nach rechts, um dann wieder von rechts nach links eilen zu können. Aus ihren Ohren ragen gekringelte Kabel-Headsets, die in akkurat-gebügelten Hemdkrägen verschwinden. Unter den Sakkos zeichnen sich Waffenholster ab. Sie schauen grimmig drein, drängen sich erst „Entschuldigung“-, dann „Achtung“-sagend durch die überwiegend grauhaarige Menschenmasse. Die Luft knistert an diesem Samstagabend, es herrscht ein vorfreudiges Durcheinander. Alle warten gespannt darauf, dass es endlich losgeht. Und das nicht einmal zu Unrecht: Schließlich soll hier gleich Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel auftreten. Gemeinsam mit Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der „Zeit“ und Interviewer des Abends.

    Seit ihrem Rückzug aus der Politik gab Angela Merkel nur wenige Interviews. Das letzte größere Gespräch datiert vom 07. Juni 2022 – im Berliner Ensemble stellte sie sich einst den Fragen des Spiegel-Journalisten Alexander Osang. Titel der Veranstaltung, damals wie Samstag: „Was also ist mein Land?“. Der Titel geht auf Merkels gleichnamiges Buch zurück, das 2021 im Aufbau Verlag erschien und drei ihrer bedeutendsten Reden – darunter unter anderem die „Wir schaffen das“-Rede von 2015 – als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland beinhaltet.

    Gegen 19.30 Uhr betreten Merkel und Di Lorenzo die dezent gestaltete Bühne: Zwei Sessel, ein Tisch und eine Vase voll Schnittblumen. Mehr ist nicht und mehr muss auch nicht – wer so lange Kanzlerin war, füllt Bühnen wie die des Leipziger Schauspiels durch bloße Anwesenheit. Was sich auch an den grob 400 Handys ablesen lässt, die just im Moment des Auftritts nach oben schießen. Alle wollen ein Bild von „Mutti“, auch die Mitarbeitenden des Schauspiels.

    Wer nicht fotografiert, klatscht. Und das nicht zu kurz: Ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben, werden Merkel und Di Lorenzo mit einem gut einminütigen Applaus empfangen. Hat ein bisschen was von CDU-Parteitag. Oder von einer Wahlkampfveranstaltung. So oder so ist klar: Das Publikum scheint ihr wohlgesonnen.

    Di Lorenzo beginnt seine Moderation, in dem er auf ein Gespräch mit dem bereits erwähnten Osang verweist. Den habe er im Vorfeld kontaktiert und „um ein paar Tipps“ gebeten. Woraufhin Osang gesagt habe: „Wenn Frau Merkel anfängt, sich über dich lustig zu machen, wird die Veranstaltung gut.“

    Das maßgebliche Qualitätskriterium für den Abend bestimmt, entwickelt sich ein anfangs durchaus launiges Gespräch über Merkels neue Rolle als Bundeskanzlerin a.D.. Di Lorenzo fragt gewohnt charmant, Merkel antwortet meist humorvoll. Die ersten gut 20 Minuten sind geprägt von viel Zwischenapplaus und schallendem Gelächter.

    Als Di Lorenzo Merkel auf ihre ostdeutsche Biografie und den Einstieg in die politische Karriere anspricht, ändert sich die Stimmung im Saal. Es geht um persönliche Verletzungen, Berührungspunkte mit der Stasi und das Leben in der DDR. Ungewöhnlich offen spricht Merkel über ihr Innenleben, blickt kritisch zurück auf das, was war und das, was ist. Di Lorenzo will von Merkel wissen, ob sie nach 16 Jahren Kanzlerinnenschaft noch ein Gefühl für die Wut der Ostdeutschen habe. Merkel weicht aus; findet, dass es vermessen wäre zu sagen, „Ich kann hier jeden verstehen“. Konkreter wird sie, als Di Lorenzo wissen will, ob Merkel sich selbst eine Mitschuld am Aufkommen der AfD attestieren würde. Die Ex-Kanzlerin antwortet schnell, sagt, dass sie in dieser Hinsicht „sehr hart“ sei und dass auch ein schweres Schicksal nicht dazu legitimiere, demokratische Prinzipien zu verletzen. Das Publikum klatscht.

    Überhaupt wird viel geklatscht an diesem Abend. Und man kann es den Menschen im Saal ja auch gar nicht verdenken – die meisten Anwesenden dürften sich hinsichtlich des Jahrgangs nur unwesentlich von Merkel, Jahrgang 1954, unterscheiden. Entsprechend können sie vermutlich auch sehr viel besser mit 16 Jahren konsequenter Nicht-Klimapolitik leben als jüngere Generationen. „Wenn es kein Corona, keine Flüchtlinge, keine Euro-Krise gegeben hätte, hätte ich vielleicht mehr Zeit für Klimaschutz gehabt. Aber auch für eine Bundeskanzlerin hat der Tag nur 24 Stunden“, sagt Merkel dazu. So als ob die Klimakrise nicht auch eine Krise wäre und als ob sie die Probleme allein habe lösen müssen. Merkel bleibt in diesem Thema blass und hat Glück, dass Di Lorenzo nicht kritischer nachfragt.

    Anders sieht das aus, als es gegen Ende der Veranstaltung um den russischen Angriffskrieg in der Ukraine geht. Einer kurzen Verurteilung des Krieges und einem historischen Rückblick auf die Geschehnisse seit dem Zerfall der Sowjetunion folgen unterschiedliche Erklärungsversuche der Ex-Kanzlerin. Merkel ist bemüht, ihre Russlandpolitik zu erklären, betont, wie wichtig diplomatische Beziehungen seien. Di Lorenzo hingegen versucht, Merkel ein Fehlereingeständnis abzuringen. Vergeblich. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht“, entgegnet die Kanzlerin, „ob es eine befriedende Funktion hat, wenn ich jetzt etwas, was ich nicht denke, einfach sage, nur damit ich einen Fehler zugebe“. Sie habe mit all den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, „die jetzige Situation zu verhindern.“ Dass ihr das nicht gelungen sei, sei kein Beweis dafür, dass es nicht trotzdem richtig gewesen wäre, es zu versuchen. Wieder klatscht das Publikum zustimmend. Einzig Di Lorenzo wirkt zerknirscht. Und wirkt es weiter, als Merkel ihn und das Publikum nicht an ihren Fantasien zu einem möglichen Kriegsende teilhaben lassen möchte. „Ich werde mich dazu nicht äußern“, bleibt die Ex-Kanzlerin hart. Sie wolle „nur eine Sache“ dazu sagen: „Mir wäre wichtig, dass wir unsere Gedanken nicht zu sehr verengen.“ „Es sollten“, so die Ex-Kanzlerin weiter, „auch Menschen, die sich Sorgen darum machen, wie das endet, weiter ihren Mund aufmachen dürfen. Das sind nicht alles nur Leute, die immer Putin nach dem Mund reden.“ Di Lorenzo fragt nicht weiter nach, belässt es dabei.

    Zuletzt geht es um Merkels unmittelbare Vorgänger; um Schröder, Kohl und Schmidt. Di Lorenzo meint, ihnen allen zum Ende ihrer Amtszeit ein pessimistischeres, ernsteres und düstereres Auftreten angemerkt zu haben. Ob sie das auch an sich festgestellt habe, will er von der Ex-Kanzlerin wissen. „Mit wachsender Amtszeit spürt man seine endlichen Kräfte“, gesteht Merkel. Bei ihr habe sich das unter anderem in „diesem Zittern“ gezeigt. Und sie gesteht auch, dass sie nach 1990 „voller Hoffnung“ gewesen sei, „dass sich Demokratie und Freiheit durchsetzen.“ In Anbetracht der heutigen Probleme nun aber weiter von Optimismus zu sprechen, erscheine ihr „nicht so ganz einfach.“ Allerdings möchte sie die den auch bei ihr spürbaren Pessimismus nicht zwangsläufig mit dem Amt der Bundeskanzler*in in Verbindung bringen. Richtig sei nur, „dass irgendwann neue Leute ranmüssen. Das ist das Wesen der Demokratie.“ Merkel bringt den Abend auf den Punkt, indem sie sagt: „Ich glaube nicht, dass ich etwas konnte, was außer mir keiner konnte.“

    Nach knapp zwei Stunden endet das Gespräch zwischen Merkel und Di Lorenzo in Jubelrufen und Standing Ovations. Nochmal ein bisschen Parteitagsstimmung für die neutrale Beobachter*in und dann ist Schluss.

    Zumindest fast. Merkel nimmt sich im Anschluss an die Veranstaltung noch einmal 30 Minuten Zeit, um im Foyer Bücher und Autogrammkarten zu signieren. Schnell bildet sich eine Schlange vor dem Autogrammtisch der Ex-Kanzlerin – zum Foto auf dem Handy braucht es jetzt natürlich noch das passende Autogramm. Auch wieder mit dabei: die vormals umhereilenden Herren in Anzügen, die sich inzwischen breitbeinig um den Autogrammtisch versammelt haben. Sie schirmen die Ex-Kanzlerin ab, achten darauf, dass alles geordnet zugeht. Grimmig schauen sie noch immer drein – ob das nun aber am Amt der Sicherheitsperson oder den Problemen unserer Zeit liegt, lässt sich nicht abschließend beurteilen.

     

    Foto: Phil Dera / ZEIT ONLINE

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