Mehr als Wir: Österreich auf der Buchmesse
Von der Wortskulptur, Krautrouladen, der Hektik, von Wortlandstreichern und schlecht eingestellten Mikrofonen – ein Besuch beim Gastland der Buchmesse
Meaoiswiamia. Mea Ois Wia Mia. Es hat mich eine kleine Ewigkeit gekostet, das Motto des diesjährigen Gastlandes Österreich auf der Leipziger Buchmesse zu verstehen. Dass es keine merkwürdige Wortfusion ist, sondern vier aneinander gehängte Worte im österreichischen Einschlag: Mehr als wie wir (Österreicher*innen sagen nicht „Mehr als wir“, sondern „Mehr als wie wir“). Es soll ein Gegenbegriff sein zum „mia san mia“, ein gängiges Sprichwort in Österreich, das unreflektiert ein pauschales Wir annimmt Dieses Wir war Dreh- und Angelpunkt des Besuchs des Gastlandes und wurde innerhalb eines umfangreichen Programms literarisch hinterfragt und reflektiert. Ein Wir ist ein heikles ideologisches Konstrukt und fasst verschiedene Identitäten unter einen Begriff. Es gibt dadurch immer ein „Wir“ und „die Anderen“, also die die nicht dazugehören. Oft ist gar nicht geklärt, wer dieses Wir eigentlich ist. Trotzdem ist eine Gesellschaft auf eine bestimmte Form des Wirs und auf Gemeinsamkeit und Solidarität angewiesen. Mit diesem Motto möchte sich Österreich als progressives, selbstkritisches und experimentelles Land auf der Buchmesse präsentieren. Viele Autor*innen schreiben mehrsprachig. Die Literaturszene Österreichs soll diverser und offener werden.
Die Reaktionen auf Österreich als Gastland der Buchmesse waren eher verhalten. Auf einige meiner Mitmenschen wirkt Österreich wie die langweilige Schwester von Deutschland, die im Einheitsbrei der deutschen Literatur mitschwimmt. Wenig aufregend oder besonders. Die Voreingenommenheit des deutschen Publikums bleibt vom Gastland nicht unbemerkt, so schreibt das Team von meaoiswiamia auf ihrer Website: „Und außerdem ist es gut, unsere deutschen Nachbarn daran zu erinnern, dass Österreich nicht im Rang von deutschen Bundesländern wie Mecklenburg/Vorpommern oder Baden-Württemberg steht. Darauf zu beharren, können nur zeitgeistbeflissene Wirrköpfe als nationalistische Anwandlung missverstehen.“ Die künstlerische Leitung Katja Gasser und ihr Team jedenfalls haben sich einiges überlegt bei der Gestaltung ihrer Anlaufstelle auf dem Messegelände in Halle 4. In dem mehrseitig begehbaren Komplex in Halle 4 gab es neben der Gastlandbühne noch ein Café, in dem österreichische Bretteljausen (traditionell auf einem Holzbrett servierte Brotmahlzeit mit viel Schinken und Käse) und Kaffee serviert wurden, außerdem sorgfältig bestückte Regale, in denen allerlei poetische Schatzkisten zum Stöbern bereitstanden. Für mich war das sehr ansprechend, ich kann mir aber vorstellen, dass für Menschen, die gerne Krimis, Thriller oder ähnliches lesen, nicht so viel dabei war. Zudem gab es noch eine Installation aus Bildschirmen, „Archive des Schreibens“ genannt, auf denen ästhetische, an Indie-Musikvideos erinnernde Kurzvideoportraits von zeitgenössischen österreichischen Autor*innen gezeigt wurden. Die kann man sich noch nachträglich auf der meaoiswiamia-Website anschauen. Das Design der Leipziger Buchmesse mit knallroten, unruhigen Stellwänden und der der Stadt Leipzig typischen pragmatischen Websitegestaltung wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen im Vergleich zum schlichten, ruhigen Design des Gastlandes. Neben einem umfangreichen Programm auf dem Messegelände mit Lesungen im 30-Minuten-Takt gab es noch ein großes Begleitprogramm, das online oder in Leipzig zugänglich war. Zum Beispiel die Podcastreihe „#meaoiswiamia: Literaturgespräche aus dem Rosa Salon“, in der die Kuratorin Gasser österreichische Autor*innen zum Gespräch einlädt, ein Gastspiel des Wiener Burgtheaters im Schauspiel Leipzig oder eine Woche österreichischer Literaturverfilmungen kuratiert von Thomas Ballhausen in der Schaubühne Lindenfels. In der Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst ist eine längere Ausstellung mit Zeichnungen von Maria Lassnig, einer österreichischen Künstlerin, zu finden, die noch bis zum 13. Mai besucht werden kann. Lassnig wird als Pionierin in der männlich geprägten Kunstwelt Österreichs gesehen. Sie beschäftigt sich in ihren Werken mit dem Konzept des „Körpergefühls“, also damit, wie man dieses abstrakte Gefühl auf Papier oder Leinwand zum Ausdruck bringen kann. Bekannt sind ihre intensiven, farbigen Bilder, auf denen verzerrte Gesichter oder Körper abgebildet sind. In der Galerie hingegen sind einige ihrer Zeichnungen ausgestellt und ein paar ihrer experimentellen Kurzfilme.
Das Café Grundmann, bekannt als österreichische Location Leipzigs, bot ein meaoiswiamia-Menü zur Buchmesse mit österreichischen Speisen und begleitendem literarischen Programm an. Zu essen gab es hier unter anderem Pastinaken-Kräutersüppchen, Grießnockerl, Serbische Krautrouladen, Topfenknödel, Apfel-Fenchel-Gelee und Schoko-Kardamom-Mousse. Eigentlich eine schöne Idee, fand ich, war dann aber doch abgeschreckt von den ausgefallenen Gerichten und habe mich aufgrund meines begrenzten Budgets nicht hereingewagt.
So umfangreich und abwechslungsreich das Programm des Gastlandes war, so schwierig war es, sich auf die Buchvorstellungen und Lesungen einzulassen. Vielleicht lag es an den schlecht eingestellten Mikrofonen, an der sehr hektischen Stimmung oder an der omnipräsenten Kommerzialität der Buchmesse. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass die Besucher*innen während der Lesungen bloß die Möglichkeit nutzten, sich von dem Stress und dem Herumlaufen zu erholen. Viele guckten aufs Handy oder in Programmhefte. Die Atmosphäre war anonymisiert, jede*r nahm sich das, was er*sie brauchte. Kontakt zwischen Publikum und Bühne entstand selten.
Am einprägsamsten war das bei der Buchvorstellung des Wortlandstreichers Ludwig Hartinger, österreichischer Dichter und Übersetzer, der auf Deutsch und Slowenisch schreibt. Sein dichterisches Tagebuch „Leerzeichen“ ist 2022 erschienen. Hartinger setzte sich hin, alt und kauzig, goss sich in aller Ruhe Wasser ein und begann ohne das Publikum anzuschauen, in das schlecht eingestellte Mikrofon seine Verse vorzulesen. Dabei pickte er zufällig Verse aus Gedichten heraus, die Worte verloren sich im hintergründigen Grundrauschen. Es wirkte, als hätte er kein Interesse an der Buchmesse und die Buchmesse kein Interesse an ihm. Eine Lyriklesung auf der kommerzialisierten Buchmesse ist so fehl am Platz wie Hartinger in einem Berliner Startup Café. Er war wie ein Relikt aus anderen Zeiten, fehlplaziert auf der beschleunigten Buchmesse und gleichzeitig beruhigend uneitel. Nach der Lesung bedankte er sich nicht und verließ schweigend die Bühne.
Evelyn Schlag, etablierte österreichische Lyrikerin und Romanautorin, die ihren neuen Roman „Please come fly“ vorstellte, wirkte etwas zugewandter, doch auch hier kam keine besinnliche Lese-Stimmung auf. Man muss sich das so vorstellen: Schlag und die Moderatorin unterhalten sich auf der Bühne, Schlag liest eine Stelle aus ihrem Roman, spricht aber nicht frontal ins Mikro, da es nicht nah genug auf sie eingestellt ist, deswegen unzufriedene Seufzer aus den Publikumsreihen, gleichzeitig Geschirrklapper, Grundgemurmel, Applaus von anderen Bühnen, Technik-Gepiepse, Handyklingeln, Gelächter.
Gut gefallen hat mir die Lesung von Hamed Abboud, einem aufgeweckten Schriftsteller, der beim Sprechen jede Silbe betonte. Er las aus seinem neuen Roman „Meine vielen Väter“, den er auf Deutsch geschrieben hat, obwohl seine Muttersprache Arabisch ist. Er erzählt von seinem Aufwachsen in der syrischen Provinzstadt Deir al-Zor, von seinem Vater, der Mathematiklehrer und Inhaber einer Bäckerei war, und seiner Mutter, der „Ausbildungskreuzritterin“, die ein bisschen besessen war von dem schulischen Erfolg ihrer Kinder und die Wohnung zu einem „Matura-Trainingslager“ machte. Abboud erzählte auch von seinem biographischen Werdegang als Schriftsteller und der langsamen, aber stetigen Gewöhnung seiner Eltern an die Tatsache, dass er sein Leben dem Schreiben widmen und keine konservative Karriere machen würde.
Dass ich aus einigen Lesungen und Gesprächen nicht so viel herausziehen konnte, lag eher an der mir zu stressigen Buchmessen-Atmosphäre und weniger an dem Angebot des Gastlandes. Dies machte im Gegenteil einen modernen, zugewandten Eindruck auf mich mit einer schönen Gestaltung des Komplexes in Halle 4 und des Programms. Es gab genügend Einladungen, in zeitgenössische Literatur aus Österreich einzutauchen, von dem eigenen deutschen Ross herunterzusteigen und Österreich als Nachbarland mit seinen vielen Verflechtungen ernst zu nehmen. Über kollektive Formen des Wirs nachzudenken und darüber, wie man viele verschiedene Identitäten in pluralen Gesellschaften sehen und hören kann, finde ich eine spannende und aktuelle Überlegung.
Foto: Nadja Webel
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