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  • Traumfänger

    Verwaschene Tattoos, die die Geschichte von tanzenden Sommerabenden in Marokko erzählen, bewegen sich über unsere Körper.

    Essaouira, August 2019: Ich hatte damals noch die starken Schlafprobleme. Meine Ärztin meinte, die kommen vom vielen Kiffen, und so beobachtete ich dich oft beim Träumen. Fenster auf Kipp, von unten Gespräche auf anderen Sprachen und Gelächter in unserer, bemühte ich mich, im Rhythmus deines auf und ab bebenden Brustkorbes zu atmen. Manchmal, wenn die Figuren Konturen bekamen, weckte ich dich schuldbewusst. Du liebtest mich dann: Haut auf Haut. Das zwischen dir und mir hat sich ein bisschen angefühlt wie mit Kleidern duschen zu gehen, dachte ich in einer der Nächte, in denen ich dich brauchte und wir uns lange wachhielten. Du meintest später zu mir, nachdem du den Kalender von 2017 mit dem von 2019 austauschtest, dass du der Liebende und ich die Geliebte gewesen war.

    Heute kiffe ich nicht mehr, aber die Albträume habe ich immer noch. Nach deinem Seminar, drei Wochen vor dem Kippen rauchen, auf marokkanischen Balkonen hast du mich begeistert angerufen. Wir müssen unbedingt anfangen, unsere Träume aufzuschreiben, dann kann man sich auf Dauer besser dran erinnern. Ich freute mich mit dir, wollte mich aber nicht erinnern. In den Träumen tat er es anderen an. Kindern. Kinder werden auch getötet, von Fremden. Papa stirbt auch. Du wusstest zu viel über Träume und was sie über Menschen sagen und ich hab’ dran geglaubt, weil ich alles über dich glaubte und so hatte ich Angst, dass du mich kennenlernen würdest.

    Kolumnistin Antonia sitzt in einer Bar mit einem Glas in der Hand

    Spüre das Salzwasser auf meiner Haut und die Erinnerungen an Marokko schwimmen zurück.

    Meine Eltern haben den Urlaub für uns beide bezahlt. Für eine Woche gabs Cocktails und direkt am Tisch vom Kellner filetierte Forelle und dann bist du zurück zu Bafög und Studentenwohnheim. Dein Vater hatte erst kürzlich seinen Laufbandjob bei Siemens verloren und deine Stiefmutter wollte sowieso kein Geld für dich ausgeben. Wir redeten nicht oft über Geld und wenn, wusste ich eh nicht, was ich sagen sollte. Was sind angemessene Worte, wenn dir jemand den Schimmel an der Zimmerdecke zeigt und trotzdem nicht mehr heizen kann. Weil die Heizkosten weiter steigen? Ich wusste genau, wie ich dich halten musste, sodass die Panik verschwand und dein Atem wieder gleichmäßig wurde, nachdem wir den Stein deiner Mutter besuchten und trotzdem wusste ich plötzlich nicht, wie ich trösten kann, wenn das Geld fehlt, weil keine Worte reichen um das Scheitern des Staates zu kompensieren und die Träume zerplatzen und so saß ich nur da und sagte immer wieder es tut mir leid.

    Im Caprisonnen-August auf Sandwiesen schrieb ich trotzdem Träume auf. Sie waren nicht meine, aber vielleicht gehörten sie ja irgendwem da draußen. Ich dachte mir seltsam utopische Fantasiegedichte aus und erzählte dir mit traurigen Augen, versteckt unter gelben Sonnenbrillen von Strandverkäufern und Märchenwelten. Ich kann nicht sagen, ob du mir damals geglaubt hast. Ich jedenfalls habe in diesen Momenten fest an die Träume geglaubt. Und so hast du dann immer viel gedeutet über Träume, die nie wirklich geträumt wurden.

    Einige Jahre später wurdest du zum Bösewicht in meinen Träumen und deine Träume, von denen muss ich gar nicht erst beginnen zu sprechen. Ich glaube, du hast es nie gewagt zu träumen, weil die Wut am Ende zu groß gewesen wäre. Die Wut über den Staat, das Geld, Hartz 4 und deine Stiefmutter. Niemand musste es aussprechen, wir wussten irgendwie alle, dass wir nicht die gleiche Chance auf gute Träume hatten. Am letzten Abend der Sonnencremewoche bei ungewöhnlich starkem Regen, begriffen wir, dass du dir das Träumen nicht leisten konntest und ich am liebsten nie wieder träumen wollte, und so tanzten wir vor Einbruch der schlaflosesten Nächte aller auf der goldenen Brücke. Unsere Finger, geleitet von Melancholie und Muscheln, in unseren Hosentaschen, als sich unsere Köpfe zu Radiohead drehten.

     

    Fotos: Antonia Wengner

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