Was darf die Polizei?
Kritik und Lob an den Maßnahmen der Polizei bei einer Kundgebung für Versammlungsfreiheit in Leipzig am dritten Juni 2023. Zur juristischen Perspektive auf die Debatte.
Der dritte Juni 2023. Tag X in Leipzig – nach der Urteilsverkündung zum Prozess von Lina E. planten Tausende aus der linken Szene, in Deutschland auf die Straße zu gehen, um gegen staatliche Repression zu demonstrieren. In Leipzig, wo Lina E. bis zu ihrer Verhaftung gelebt hat, waren besonders viele Aktionen geplant – bis die Stadt Leipzig ein Versammlungsverbot für das gesamte Wochenende verhing. Als einzige erlaubte Veranstaltung sollte am Samstag eine Kundgebung mit anschließender Laufdemonstration der Gruppe „Say it loud“ unter dem Motto „Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“ stattfinden.
Kurz bevor die rund 2.500 Demonstrant*innen loslaufen wollen, beschließt die Versammlungsbehörde ein Verbot der Laufdemonstration, da es zu viele Demonstrant*innen seien. Aus der Menge der Teilnehmenden fliegt ein Brandsatz auf Polizeibeamt*innen. Was darauf folgt: Teilnehmende werden von der Polizei eingekesselt, darunter auch Minderjährige. Die Polizei führt Identitätsfeststellungen durch und konfisziert Handys. Einige Demonstrant*innen werden in die Gefangenensammelstelle (Gesa) an der Dimitroffwache gebracht.
„Eine unangemessene Kollektivstrafe“, wie Irena Rudolph-Kokot, Organisatorin bei „Say it loud“ und „Leipzig nimmt Platz” es nennt. Allen im Polizeikessel befindlichen Personen werde sowie schwere Körperverletzung aufgrund des Brandsatzes vorgeworfen.
Jonas Teubner, Rechtsanwalt aus Leipzig, bekräftigt diese Einschätzung. So sei die Feststellung der Identität von Demonstrierenden nach Strafprozessrecht nur erlaubt, wenn ein sogenannter Anfangsverdacht hinsichtlich einer Straftat bestehe: „Allein die Teilnahme an einer Demonstration reicht dafür normalerweise nicht aus“, betont Teubner. 2.500 Teilnehmer*innen wurden bei der Kundgebung für Versammlungsfreiheit am dritten Juni geschätzt – circa 1.000 von ihnen sollen teilweise bis zu elf Stunden gekesselt worden sein. Wie viele von diesen 1.000 gekesselten Personen tatsächlich gewalttätig waren, ist unklar, da von der Polizei bisher jegliche Zahlen fehlen. Teubner sagt dazu: „Es scheint so, als habe man hier willkürlich eine große Masse eingekesselt.“ Somit sei der Anfangsverdacht hinsichtlich einer Straftat und damit auch das Recht, einzukesseln, bei vielen Demonstrierenden nicht existent gewesen.
Auch in Bezug auf die Dauer von elf Stunden äußert Teubner Bedenken, da das Kesseln laut Strafprozessordnung nicht länger als zum Feststellen der Identität notwendig erfolgen dürfe. Laut Angaben der Polizei seien 12.000 Polizist*innen in den Tagen vom 31. Mai bis zum vierten Juni im gesamten Leipziger Stadtgebiet unterwegs gewesen, allein 3.000 von diesen am dritten Juni in Connewitz. „An Personal kann es also nicht gemangelt haben“, betont Teubner.
In einem Erfahrungsbericht auf der Website von „Leipzig nimmt Platz“[2] ist nachzulesen, dass auch Minderjährige im Polizeikessel waren. Eine dieser Personen soll, nachdem ihre Identität bereits festgestellt worden war, ohne ersichtliche Gründe in die Gesa gebracht worden sein. Laut Teubner ist die Überführung in Polizeigewahrsam nur dann erlaubt, wenn sie der Gefahrenabwehr diene. „Wenn Minderjährige, nachdem sie schon Stunden im Kessel verbracht haben, auch noch in Polizeigewahrsam gesteckt worden sein sollten mit der Begründung, dass von ihnen Gefahr ausgehe, dann halte ich das für offensichtlich rechtswidrig“, unterstreicht Teubner. Da in diesem Fall die Erziehungsberechtigten sogar vor Ort gewesen seien, um das Kind abzuholen, könne es sich dabei bloß um Schikane gehandelt haben.
Den Anmelder*innen der Kundgebung sei es rechtlich nicht möglich, gegen die polizeilichen Repressionen vorzugehen. Gerade konzentriere man sich in der ehrenamtlichen Arbeit darauf, Betroffene zu unterstützen und mediale Aufmerksamkeit zu gewinnen. Rudolph- Kokot beschreibt das Ausmaß der Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen: „Wir hören von Kindern, die aufgrund des Wochenendes zu nichts in der Lage sind.“ „Leipzig nimmt Platz“ bietet deshalb beispielsweise ein Austauschtreffen für Eltern und Betroffene an. Rudolph-Kokot hoffe dennoch, dass sich Betroffene der polizeilichen Repressionen dazu entscheiden, die Maßnahmen der Polizeibeamt*innen anzuzeigen.
Ob diese Anzeigen letztendlich zu Konsequenzen führen, sei unklar. Teubner beschreibt, dass Handeln, das bei Nicht-Polizist*innen strafbar wäre, bei Polizist*innen durch bestimmte Gesetze, sogenannte Eingriffsgrundlagen, gerechtfertigt werden könne. „Handeln Polizist*innen aber offensichtlich außerhalb des Geltungsbereiches dieser Eingriffsgrundlagen, kommt auch eine Strafbarkeit in Betracht“, erklärt Teubner. Er nennt hier das Beispiel des sogenannten Hamburger Kessels. In diesem Fall wurde 1986 eine Einkesselung der Polizei im Nachhinein für rechtswidrig erklärt.
Armin Schuster, sächsischer Innenminister der CDU, weist auch nach einem durch die Partei „Die Linke“ einberufenen Innenausschuss am vergangenen Montag jegliche Kritik am Polizeieinsatz zurück. In einem Interview mit dem MDR betont er, dass „diese Einsatzführung die verhältnismäßigste Möglichkeit war, in Leipzig keine Scherben-Demo zu haben“.
Ob es zu Konsequenzen kommen wird oder nicht: Für Teubner ist klar, dass die Maßnahmen der Polizei deutliche Eingriffe in Grundrechte waren: „Im Grunde liegt in jeder polizeilichen Maßnahme, die sich gegen eine Person richtet, ein Grundrechtseingriff.“ Im Fall des Kessels zum Beispiel das Grundrecht auf Fortbewegungsfreiheit und körperliche Unversehrtheit. Erlaubt sei es trotzdem, wenn in konkreten Situationen Voraussetzungen für eine Eingriffsgrundlage gegeben sei. Die habe bei den Maßnahmen am dritten Juni in vielen Fällen gefehlt, weswegen diese weder recht- noch verhältnismäßig gewesen seien.
Das Interview mit Jonas Teubner wurde am 9. Juni geführt.
[1] https://dejure.org/gesetze/StGB/125.html
[2] https://platznehmen.de/2023/06/07/erfahrungsbericht-vom-kessel-und-der-gesa-am-03-06-als-ich-anfing-zu-weinen-durfte-ich-mich-wieder-anziehen/
Foto: Adefunmi Olanigan
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