Zwischen den Stühlen?
Warum luhze-Redakteurin Lene bei dem Spiel „Reise nach Jerusalem“ keinen Stuhl findet, auch die kunstvollste Schublade zu eng und staubig ist und sie weder scannen noch tauchen will.
Ach ja, die großen Fragen nach der eigenen Identität – „Wer bin ich?“, „Wo gehöre ich hin?“ und „Was mache ich denn hier eigentlich den lieben langen Tag?“. Hin und wieder schleichen diese Fragen doch in unser aller Köpfen umher. Mal grübelnd und an die Decke starrend im Bett, mal unter der Dusche mit Shampoo auf dem Kopf. Neulich holte mich einer dieser Identitäts-Gedankenkreisel ganz plötzlich und unverhohlen an der Ampel ein. Jemand hupte und rettete mich in letzter Sekunde davor, dass mir von dem Kreiseldenken schwindlig wird. Zum Glück.
Tatsächlich besser geht es mir nach solchen Grübelschleifen nie. Antwort und Lösung sind ohnehin nicht zu finden. Und doch sind die Fragen, die dieses leichte Schwindelgefühl auslösen, ja nicht ganz unerheblich. Fragen nach dem „Wer?“ und „Warum?“ bewegen uns Menschen seit eh und je. Das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit ist dem Homo Sapiens immanent. Sich seiner selbst sicher zu sein, die eigene Rolle der Welt zu verstehen kann so viel Klarheit geben. Es nicht zu tun, kostet zu viel Energie.
Gut und schön, aber ist dieses Bedürfnis erfüllt? Ist es denn menschenmöglich, es zu erfüllen? Gehöre ich so richtig irgendwo dazu und habe mein „Ding“, meine „Leidenschaft“ und mein „Das-bin-Ich“ gefunden? Vollkommen fühle ich mich nicht. Tut das jemand? Da ist nicht das eine Ding, für das ich jeden Morgen aufstehe.
Ich habe nicht die eine Gruppe und nur die eine, zu der ich jetzt und auf immer gehöre. In der einen Gruppe fehlt es mir an Mullet und ohrenfreier Mütze, in der anderen hätte ich mich mit Blazer, goldenen Creolen und Matcha-Latte in der Hand dann doch etwas wohler gefühlt.
Ich habe keine Leidenschaft, die mir die bedingungslose Zugehörigkeit zu irgendetwas verspricht. Fantasy-Geschichten sind sicher eine fabelhafte Sache, um sich in fremde Welten hineinzuträumen. Doch ein Hobbit-Kostüm trage ich zur Leipziger Buchmesse mit Sicherheit auch im nächsten Jahr nicht. Klavier und Gitarre habe ich schon immer gern gespielt. Doch nie so gern, dass ich als Kind die Tage mit nichts anderem verbringen wollte oder es mir eingefallen wäre, Teil der Schulband zu werden. Viel mehr als „Riptide“ am Lagerfeuer wird es wohl kaum mehr werden.
Ich liebe bildende Kunst und gehe von Zeit zu Zeit gern in Ausstellungen. Doch was genau „Kubische Abstraktation“, „Chiaroscuro“ und „Malduktus“ sind, habe ich seit dem Abitur niemandem mehr erzählt, könnte es schon lange nicht mehr.
Bin ich leidenschaftslos? Fehlt mir ein Platz in der Welt, der Stuhl, auf dem ich sitzen kann? Bin ich zwischen den Stühlen und da ist keiner mehr? Ich mag Absolute nicht. Ja, müssen wir uns denn wirklich entscheiden, wer wir sind, bleiben und was jetzt doch bitte das Ding sein kann, mit der uns fortan alle Welt assoziieren kann? Ich möchte mir nun wirklich nicht mein eigenes Schublädchen zusammenzimmern müssen. Es wird schnell muffig, mit Sicherheit wäre überall Staub, man bekäme schlecht Luft. Tageslicht gibt es in einer Schublade auch keines.
Begeisterungsfähigkeit, Neugierde, den peripheren Blick beizubehalten – all diese Eigenschaften scheinen mir ebenso erstrebenswert wie Leidenschaftlichkeit. Erfreulicherweise bin ich offenbar bei Weitem nicht die einzige Person ohne Berufung. Unzählige Menschen taumeln zwischen Interessen, Berufswünschen, immer neuen privaten Projekten hin und her. Und wie schön, es gibt sogar einen schicken Begriff für uns: „Scanner-Persönlichkeiten“. Fantastisch. Bücher um Bücher, Artikel um Artikel werden über uns geschrieben. Die Ted Talks nicht zu vergessen. Fantastisch.
Habe ich also tatsächlich eine Schublade. Eine ganz besonders feine, denn wir Scanner sind eben offen, statt engstirnig, flexibel und vielfältig begabt. Das Ganze natürlich in Abgrenzung zu einer anderen Gruppe – den sogenannten „Taucher-Persönlichkeiten“. Glück gehabt, mir kann doch jemand sagen, wer ich bin und wer ich nicht bin. Klasse.
Ja, ich habe also doch eine Schublade. Ich möchte keine Schublade. Muffig, staubig, dunkel ist und bleibt es da. Vor allem ist es eng, einengend. Das ist völlig unabhängig davon, aus welchem Holz ich meine Schublade zimmere, unabhängig davon, ob ich „Hobbit-Nerd“, „Multiinstrumentalistin“ oder „Van-Gogh-Expertin“ darauf schreibe.
Wir brauchen Schubladen und Schemata, um uns in der Welt zu orientieren, müssen selektieren, bleiben nur so lebensfähig. Aber ein Leben lang nach der idealen Schublade zu suchen, kostet zu viel Zeit, zu viel Kraft, zu viel Angst, es könnte doch die falsche sein, tut weh. In irgendeiner Schublade stecke ich mit Sicherheit. Vielleicht in mehreren. Ich weiß es nicht. Ich will es gar nicht wissen.
Fotos: Lene Göschel
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