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  • Das Pi-Gesetz des Alles-Sein-Könnens

    Es gibt keine universelle Antwort auf die Frage nach der „richtigen“ Religion. Auf einem Lesedate mit dem Roman „Life of Pi“ fand Kolumnistin Elsa jedoch viele inspirierende Ansätze auf ihre Fragen.

    Schon länger frage ich mich, wie sich Menschen für eine Religion entscheiden können, und dabei sicher sind, dass es die „richtige“ ist. Allein diese Aussage zeugt vermutlich nicht von einem tief verankerten Glauben meinerseits, denn sonst würde ich mir diese Frage höchstwahrscheinlich nicht stellen. Aber mal im Ernst. Ich will ja mit ganzem Herzen wirklich gerne an etwas glauben. Aber sich für eine Sache allein zu entscheiden fällt mir doch ziemlich schwer. Woher weiß ich, was das Wahre ist? Dafür hat vermutlich alles etwas, was ich sehr schön finde, jedoch auch Aspekte, die mir suspekt erscheinen. 

    Nicht erst seit ich Islamwissenschaften studiere, interessiere ich mich für Religionen. Als Pfarrerskind hab ich stets sehr viel Kirche hier und Gottesdienst da um mich gehabt. Früher fand ich das eher uninteressant. Zur Christenlehre hätten mich keine zehn Pferde bekommen. Und da meine Mutter als Ethiklehrerin das alles gar nicht so anders sah, gehörte das sonntägliche Gottesdienstgehen nicht zum Wochenprogramm meiner Familie. Außer eben für meinen Papa, der den ganzen Spaß ja leitete. Erst als ich älter wurde, gewann Religion an größeren Wert für mich. 

    Vielleicht wäre ich in den Religionswissenschaften doch besser aufgehoben gewesen.

    Ab einem gewissen Punkt begann ich dann auch, über Glaubenssätze und Bräuche anderer Religionen lernen zu wollen. Resultat: Ich beschloss, dass es das eine Richtige nicht geben könnte. Nicht, dass mein Vater mir das stets so eingebläut hätte. Ich bin wirklich froh, in einem Umfeld aufgewachsen zu sein, in dem ich an alles glauben konnte, was ich wollte. Aber so richtig, zu hundert Prozent überzeugt hatte mich noch nichts. Beziehungsweise, es gibt zu viel, was Schönes in sich birgt. 

    Und da begegnete mir Pi. In gedruckter Form auf weißem Papier stand er vor mir und ich hege seitdem ziemlich viel Sympathie für ihn. Geborener Hindu, entschiedener Christ und glücklicher Muslim. Die perfekte Verkörperung von dem Alles-Sein-Können. 

    Ich habe mir seitdem immer gewünscht, mitPi Patel befreundet zu sein. 

    Pi, der den Schiffbruch mit Tiger überlebt hat, welcher auf mich immer einen sehr weisen, subtilen Eindruck gemacht hat und drei Religionen gleichzeitig verehrt.Pi, den manche vermutlich aus dem bekannten Buch und Film „Life of Pi“ kennen. 

    Aus meiner Sicht ein Meisterwerk Yann Martels, Autor dieser Geschichte. 

    In dieser sinkt das Boot „Tsimtsum“, an dessen Bord sich ein ganzer Zoo samt Crewmitglieder und die indische Familie Patel befand, infolge eines verheerend Sturms im Pazifik. Allein Pi, jüngster Sohn der Familie, und ein paar vereinzelte Tiere, mitunter ein bengalischer Tiger, können sich auf ein kleines Boot retten und überleben viele Wochen gemeinsamer Fahrt ohne Ziel und Hilfe, bis sie in México stranden.  

    Wie das sooft der Fall ist, kommt auch bei dieser Fiktion die Verfilmung bei weitem nicht an die Tiefe des Buches heran, finde ich. Allein dass man als Leser*in am Ende vor die Entscheidung gestellt wird, welche der zwei Varianten der Geschichte, die mit den Tieren oder die der Menschen, die richtige sei. Im Buch wird die Geschichte von Pi zwei Mal erzählt. Das erste Mal sind die Protagonisten neben Pi im Rettungsboot Tiere, die sich auch wie Tiere verhalten, getrieben von einem alles andere überschattenden Überlebensinstinkt. Beim zweiten Mal werden genau dieselben Geschehnisse geschildert, jedoch handelt es sich nun um Menschen, die dasselbe tun wie die Tiere der ersten Geschichte. Auf einmal erscheint ihr Verhalten grausam. 

    „Und nun, liebe Leser*innen, könnt ihr entscheiden, welche der beiden Storys die Wahre ist…“ 

    Diese Entscheidungsfreiheit hat mich damals ziemlich genervt. Aber wahrscheinlich ist es auch das Geniale an genau solchen Geschichten. Dieses Wissen von „Nein, es ist nicht so wie der Autor es will, es kann so sein, wie ich es will. Ich kann es in meinem Kopf weiterspinnen.“ 

    Umso größer war der Schock für mich letztlich, als ich viel später herausfand, dass all das nur eine Fiktion ist. Ich hab tatsächlich lange geglaubt, die Geschichte wäre wirklich passiert. Aber Pi existiert nicht. Weder gab es einen Jungen, welcher mehrere Wochen mit einem Tiger auf dem Atlantik trieb, ohne von diesem gefressen zu werden, noch einen (mir bekannten) Menschen, welcher dem Christentum, Hinduismus und Islam zugleich ergeben ist und dadurch keinen inneren Konflikt mit sich hat. 

    Dabei ist Pi genau deswegen mit einem Glanz der Inspiration für mich umgeben. Seine gesamte Geschichte. Weil er wusste, dass er Vieles gleichzeitig sein kann. Und dass Vieles gleichzeitig wahr und schön sein kann. Man hat die Möglichkeit, sich eine Kollektion von dem zu erstellen, was das Heilsamste für die eigene Seele ist. Mit der Zeit komme ich immer mehr auf den Entschluss, dass es nicht das universell Wahre gibt, sondern für jede Person das, was sie zu guten Taten antreibt, das Richtige sein muss 

    Mich hat dieses „Cherry-Picking“ Argument von Leuten schon immer aufgeregt: „Aber du kannst doch nicht nur das aus der Religion raussuchen, was dir am besten gefällt“- oder „Entweder ganz, oder gar nicht!“. 

    Doch, ich kann. Denn auf einer persönlichen Ebene macht es für mich so viel Sinn, genauso wie für Pi, dass man an das eine glauben, und das andere trotzdem lieben kann. Und dass man nicht allem blind folgen muss und einfach ignoriert, welche Aspekte einem vielleicht nicht so gefallen. Dann wäre man ja eine Marionette. 

    Auch finde ich es unlogisch zu sagen, es gäbe nur die eine „gottgewolllte“ oder „richtige“ Religion für die gesamte Menschheit, denn damit würde ich ja Millionen von Menschen, welche vor mir gelebt haben und zu deren Zeitpunkt es diese eine Religion möglicherweise noch gar nicht gab, ihren Glauben und womöglich auch Lebenssinn absprechen.  

    Und ich kann es auch wirklich verstehen, wenn Menschen sagen, dass sie an gar nichts glauben. Dass es keine Göttlichkeit gibt oder die Natur eine solche widerspiegelt.  

    Aber selbst hier liefert Pi die für mich einleuchtende Antwort, weshalb ich für mich mit Religionen noch nicht abgeschlossen habe: 

    Denn wenn wir zu dem, was ich am Anfang erwähnt habe, zurück gehen, dass sich der Leser bei Life of Pi entscheiden kann, welche der zwei Varianten der Story die schönere sei, so wird im Buch gesagt: 

    „Ja. Die Geschichte mit den Tieren ist die bessere Geschichte. Auch wenn sie vielleicht die Unreale ist.“ 

    Pi Patel: „Danke. Und genau so ist es mit Gott.“ 

     

    Fotos: privat

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