Ofenfrische Forschung in zehn Minuten
Am 6. Juni fand im Werk 2 der Leipziger Science Slam statt. Zehn Minuten, Fünf Wissenschaftler*innen, ein Publikum, das von der neuesten Forschung begeistert werden soll.
Pinkes Licht und das wissbegierige Gewusel der Zuschauer*innen füllen die hohen Decken des Werk 2. Mit Limo, Bier oder Wein in den Händen finden nach und nach alle zu ihren Plätzen. Musik. Das Publikum blickt gespannt zur Leinwand über der Bühne, auf der schwarz-weiße comicartige Figuren durch das Universum fliegen – das Universum der Wissenschaften. Der 18. Leipziger Science Slam hat begonnen.
„Jahrelang sitzen Wissenschaftler*innen da und forschen und forschen und forschen und – Heureka! – Nur wem zeige ich das jetzt?“. So skizziert der Moderator Rainer Holl das Dasein als Wissenschaftler*in. „Tja, diese fünf haben sich entschieden, ihr Werk der letzten Jahre auf zehn heitere Minuten herunterzubrechen und an einem Dienstagabend ein paar Leutchen in Connewitz davon zu erzählen.“ Lachen. „Ein paar Leutchen ist dabei untertrieben“ – die Plätze sind restlos ausverkauft.
Und die zahlreichen Zuschauer*innen sind wesentlicher Bestandteil der Veranstaltung. Wie beim herkömmlichen Poetry Slam entscheidet der Applaus am Ende, wer Gewinner*in des Abends ist. Auch die Reihenfolge, in der die fünf Wissenschaftler*innen auftreten, wird von Silvia aus dem Publikum gelost. Ihre Sitznachbarin Angelina spielt die Triangel, sobald die zehn Minuten Redezeit abgelaufen sind.
Die Idee der Veranstaltung laut dem Moderator: Brückenbauen zwischen Wissen und Unterhaltung, bewegen, begeistern, verblüffen. Oder wie Holl es dem Publikum verkündet: „Wir wollen Emotionen!“ Die soll es bekommen.
Ein kunterbuntes Programm erwartet das Publikum. Von Geschichtsdidaktik über Verkehrsingenieurswesen bis zu Textilarchäologie ist so ziemlich alles dabei, was das Herz begehrt. Jedenfalls die Herzen derer, die sich gern mit Randomfacts schmücken.
Astrophysiker Julian Stähle beginnt den Abend. Der Masterand aus Potsdam erzählt von der Physik der Wolf-Rayet-Sterne – einer romantischen Geschichte voller Extreme, Drama und Orangen – so der Titel, der alle etwas ratlos zurücklässt. Zumindest sorgt so ein verheißungsvoller Titel für Spannung. Seine Forschung beschäftigt sich mit einem bestimmten Stern, dem NGC682212. Stähle hat ihn Tim genannt. Niedlich. Er erzählt uns, was er so über in herausgefunden hat. Tim sei unwahrscheinlich weit weg von der Erde, hätte eine beachtlich hohe Leuchtkraft und sei wohl sehr zerstörerisch. So richtig wisse man auch nicht, weshalb Tim eigentlich da ist. Begleitet wird Stähle von einer PowerPoint-Präsentation von vielen kleinen Strichmännchen, die ein paar romantische Situationen erleben. Ab und an ist eine Orange im Bild. Hübsch, aber seine bemühten Versuche, dem Publikum Spektroskopie nahezubringen bleiben den angestrengt irritierten Gesichtern zufolge vergeblich. Poetische Begriffe wie „Sonnenwinde“ oder Stähles „Wir bestehen aus Sternenstaub“ begeistern allerdings. Die vom Moderator geforderten Gefühle sind da.
Physikalisch bleibt es mit dem Verkehrsingenieur Johannes Strohhäcker. Auch er setzt auf Emotionen. Allerdings auf negative und beginnt seine Präsentation mit den Krisen unserer Zeit – Waldbrände, Kriege, Umweltzerstörung. Strohhäckers zehn Minuten scheinen mehr politisches Statement als Präsentation seiner neuesten Forschung. Die Wichtigkeit von akkubetriebenen Zügen für die Mobilitätswende bleibt aber allen im Gedächtnis. Die seien auch günstiger als jeder Dieselzug. Strohhäcker hoffe, Klimaschutzmaßnahmen mit Hilfe seiner Forschung keine Geldfrage blieben. Eine schöne Botschaft.
Mehr politisches Statement als alles andere ist auch der Vortrag „Geschichte in Erklärvideos – wenn das die Lösung ist, wie schlimm ist dann das Problem?“. Geschichtsdidaktiker Daniel Münch echauffiert sich über Simpleclub und Co.: „Furchtbar und ungenau und furchtbar und die zeigen ja sogar falsche Europakarten“. Die Idee von Bildung dürfe nicht Wissen zum Selbstzweck oder zum Zweck der nächsten Prüfung und das war’s das auch sein. Zustimmendes Geraune. Begeistert oder verblüfft scheint niemand so richtig. Vielleicht sind der*die eine oder andere kritischer beim Schauen des nächsten Fünf-Minuten-Videos über die zehn wichtigsten Fakten über das Römische Reich.
True-Crime Dokumentationen auf Netflix werden die Besucher:innen des Science Slams ab jetzt auch mit anderen Augen sehen. Katja Schmieder, Amerikanistin aus Leipzig, erzählt in ihren zehn Minuten vom Phänomen des Serienmörder*innen-Trends. Sie beschreibt, wie deren Geschichten überzeichnet, die Personen selbst gleichzeitig heroisiert und verteufelt werden. Das ist tatsächlich absurd. Verblüfft und voller Emotionen scheint dennoch niemand zu sein. Vielleicht war für die meisten, nicht wirklich etwas neues oder mitreißendes dabei.
Die Textilarchäologie bewegt, begeistert und verblüfft erheblich mehr als Astrophysik, Verkehrsingenieurswesen oder Geschichtsdidaktik es konnten. Wer hätte gedacht, dass es derart interessant sein kann, was die Menschen vor 3.000 Jahren irgendwo in der Nähe von Österreich so getragen haben. Ronja Lau, Doktorandin und Textilarchäologin, beweist uns das Gegenteil. „Die Frage „Was ziehe ich nur an?“ beschäftigt uns doch tagtäglich. Ja Leute, so ging es den Menschen in der Eisenzeit auch. Die hatten nicht nur Kartoffelsäcke an., trugen nicht nur grau und waren irgendwie schmutzig. Die hatten Stil.“
Laus Leidenschaft für ihr sehr nischiges Forschungsgebiet ist ansteckend. Fasziniert lauschen die Zuschauer*innen, wie sie von Abdrücken von Schafwollfasern in Rostklumpen und dem Kraut Waid schwärmt, das ein wunderschönes Hellblau färbe. Als die Triangel ertönt, kommt der Moderator zurück auf die Bühne und fragt Lau zu ihrer Forschung aus – auch ihn hat die Geschichte Jahrtausender alter Mode gepackt. Ronja Lau ist eine von vier Textilarchäolog*innen deutschlandweit. In ganz Europa gäbe es so 50 bis 60 Kolleg*innen. Ob sich das nach diesem Abend ändert? Oder ob Laus Vortrag die Schulklasse im Publikum zu neuen Karriereplänen inspirieren konnte?
Der Applaus soll über Sieg und Niederlage entscheiden. Alle fünf konnten faszinieren, die Entscheidung ist dennoch eindeutig. Ronja Lau gewinnt mit Abstand, das Publikum tobt. Nahezu jede*r hat in der Pause Schlange gestanden, um das rot-orangene Kleid, das die Doktorandin mitgebracht hat, einmal anzufassen. Es ist das Ergebnis Jahrzehnte langer Forschung. Und nun kann sie es präsentieren – das haben adelige Frauen zur Eisenzeit getragen. Lau ist das Highlight des Abends.
Wie das so ist, wird wohl der Großteil von dem, was das Publikum heute lernen konnte, wieder vergessen werden. Aber sicher nicht alles. Der zerstörerische Tim bleibt sicher noch eine Weile in Erinnerung. Es bleibt spannend, welches Nischenwissen beim nächsten Science Slam im September für Begeisterung und den lautesten Applaus sorgen kann. Dass man sich in der Eisenzeit mit einem halben Kilo Glasperlen schmückte, dafür hat Ronja Lau gesorgt, wird wohl ab sofort der liebste Randomfact vieler Zuschauer*innen auf der nächsten WG-Party.
Fotos: Lene Göschel
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