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  • Ein Kompass

    Für Leipzig zum Jahrestag.

    Leipzig, ein Jahr ist es jetzt her, dass ich das erste Mal an deinem Busbahnhof ausgestiegen bin. Deine bunten Wände, deine Straßenbahnen, deine Menschenmassen: Du warst so leuchtend lebendig und sonnig. Du bist mir erschienen wie der hellste Ort auf Erden. An diesem stressigsten, aufregendsten, wahnsinnigsten Wochenende meines Lebens habe ich mich für dich entschieden. Bevor ich wieder abgefahren bin, habe ich meine Zusage für das Studium persönlich in den Briefkasten an der Uni geworfen, und einen Monat später habe ich die Wohnung bezogen, in der ich immer noch wohne. Seitdem bin ich hier. 

    Der Zustand, in dem ich zu dir kam, war kein guter: Ich hatte meine erste große Liebe verloren. Vor Leipzig war Prag. Ich wollte dort bleiben, ich hatte sogar schon einen Platz an der Uni, aber dann wurde es unerträglich und ich musste gehen. Die Entscheidung für Leipzig war auch ein Aufgeben. Es hieß akzeptieren, dass dieser Teil meines Lebens, diese große Liebe, vorbei war. Seit ich das letzte Mal in den Bus gestiegen bin, war ich nicht mehr in Prag, aber es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht daran denke. Wer einen Ort oder eine Person an einem Ort liebt, wird zu einem Kompass, der sich dorthin dreht. 

    Am ersten Wochenende in Leipzig. Foto: privat

    Ein Jahr ist es her, und es fühlt sich nicht so an. Leipzig, du hast mich auf- und angenommen wie keine Stadt zuvor. Noch nie hatte ich so viele Freundschaften an einem Ort. Noch nie war ich so schnell so tief in das System einer Stadt eingebunden, noch nie habe ich einen Ort so schnell kennengelernt. Ohne die Stimmen der Straße und die Geräusche der Bahn, die unter meinem Fenster vorbeifährt, kann ich kaum noch einschlafen.  

    Und trotzdem. Trotzdem denke ich oft an andere Städte, andere Orte. Sollte ich nicht doch nach Berlin ziehen, nach Wien, aufs Land, in ein anderes Land? Ich denke zurück an Prag. Ich denke an Städte, in denen ich gelebt habe, und an Städte, in denen Menschen leben, die ich vermisse. Ich will überall leben und nirgendwo. Wo ich bin, will ich nicht bleiben; was ich verlassen habe, will ich wiederhaben. Ich will nach Hause, aber mein Zuhause ist über den ganzen Kontinent verstreut. Oft fühle ich mich wie ein Sack voller Kompasse, die alle zu anderen Polen zeigen.  

    Wie ich kommen die meisten meiner Freund*innen hier aus anderen Städten, viele auch aus anderen Ländern. Wir verstehen uns als Fremde unter Fremden. In der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, fühle ich mich immer nur fremd, während alle anderen dazugehören zu scheinen. Unter Fremden zu sein fühlt sich richtig an: Ich gehöre zu denen, die nirgendwo hingehören. 

    Ich fühle mich verschieden von Menschen, die nie wirklich das Bedürfnis haben, ihre Heimat zu verlassen. Ich beneide sie auch: um die sichere Zugehörigkeit zu einem Ort. Wissen, wo man hingehört; zufrieden sein mit dem, was man hat. Mir scheint die Fähigkeit zu fehlen. Ich will immer auch woanders sein. Mein Leben kommt mir zu klein vor. Ich kann schwer ertragen, dass jede Entscheidung für etwas auch eine Entscheidung gegen alle anderen Möglichkeiten ist. 

    Es läuft immer gleich ab: Am Anfang gefällt es mir, und ich denke, ich könnte für immer bleiben. Dann setzt die existenzielle Klaustrophobie ein. Dann denke ich, dass das Gras woanders vielleicht nicht grüner ist, aber wahrscheinlich anders grün, und das will ich auch noch sehen, bevor ich sterbe.  

    Vielleicht bin ich einfach nur jung. Manchmal scheint die Sonne über die Elster und ich denke, hier will ich für immer wohnen. Vielleicht bleibe ich nach dem Studium hier, vielleicht gehe ich und kehre zurück, vielleicht verlasse ich dich irgendwann. Leipzig, es tut mir leid, dass ich dir nichts bieten kann außer Wankelmut und Wechselhaftigkeit. Eins kann ich versprechen: Wenn ich dich verlasse, dann nehme ich einen Kompass mit, der für immer in deine Richtung zeigt. 

     

    Foto: Unsplash

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