Tage eines normalen Lebens
Zwischen warm und kalt, zwischen Liebe und Feindseligkeit: Mikita Frankos Roman „Die Lüge“ porträtiert das Leben queerer Menschen in Russland.
Als „Die Lüge“ 2020 in Russland erschien, durfte das Buch noch verkauft werden – allerdings nur an Erwachsene, weil darin Homosexualität dargestellt wird. Damals sorgte es für Aufsehen und Skandal, wurde aber auch für Literaturpreise nominiert. Inzwischen ist der Roman ganz aus russischen Buchläden verbannt, wie viele andere auch: Im Dezember 2022 wurde die Darstellung von „nicht traditionellen“ Beziehungen dort vollständig verboten.
Ausgegrenzt, in den Untergrund gezwungen, in Staatspropaganda zum Feind und Agenten „westlicher Ideologie“ erklärt – die Situation für LGBTQ*-Menschen in Russland, schon lange schwierig, hat sich in letzter Zeit dramatisch verschlechtert. Neben der Verschärfung des „LGBT-Propaganda“-Gesetzes wurde vor Kurzem auch medizinische Transition verboten und die rechtliche Änderung des Geschlechts unmöglich gemacht.
Autor Mikita Franko, selbst trans, ist 1997 in Kasachstan geboren und mit 18 Jahren nach Russland gezogen. „Die Lüge“, seinen ersten Roman, veröffentlichte er im Alter von nur 22 Jahren. Die deutsche Übersetzung von Maria Rajer erschien 2022. Teilweise entstand das Projekt aus persönlichen Blog-Einträgen über Frankos eigene Erfahrungen, die er dann auf einen fiktiven Protagonisten umschrieb.
Der Originaltitel, „Дни нашей жизни“, bedeutet wörtlich übersetzt „Tage unseres Lebens“. In kurzen, episodenhaften Kapiteln werden zehn Jahre aus dem Leben des Jungen Mikita erzählt, der in Russland mit zwei Vätern aufwächst.
Miki lebt in einer unbenannten Großstadt in Sibirien. Als er vier Jahre alt ist, stirbt seine Mutter und er wird von seinem Onkel Slawa aufgenommen. Dieser wohnt zusammen mit seinem Partner Lew. Bald wachsen die drei zu einer Familie zusammen: Miki beginnt, die beiden als seine Eltern zu bezeichnen. Doch sobald er in die Schule kommt, prägen Slawa und Lew ihm ein, dass er seine Familiensituation niemandem gegenüber erwähnen darf. Wenn Klassenkamerad*innen zu Besuch kommen, werden Fotos weggeräumt und Regenbogenflaggen versteckt. Falls Autoritäten davon erfahren sollten, droht Slawa der Entzug des Sorgerechts und Miki das Kinderheim.
Mikis Kindheit und Jugend ist von Zerrissenheit geprägt. Das Verstecken setzt ihm zu. Manchmal hasst er seine Väter dafür, dass er für sie lügen muss, und wirft ihnen vor, dass es besser wäre, im Kinderheim zu leben. Aber auch andere, „normalere“ Probleme beschäftigen ihn: Schwierigkeiten in der Schule, Streit mit den Eltern über Hausaufgaben, Probleme mit Klassenkamerad*innen und mit den eigenen Gefühlen. Seine psychischen Probleme verschlimmern sich mit dem Beginn der Pubertät und der Erkenntnis, dass er selbst queer sein könnte.
Stellenweise merkt man dem Buch an, dass es auf zunächst unzusammenhängenden Blog-Einträgen basiert, und auch, dass es von einem sehr jungen Autor verfasst wurde. Manches ist technisch ungeschliffen, einige Handlungsstränge verlaufen ins Leere. Aber gerade auch deshalb liest sich die jugendliche emotionale Realität schonungslos intensiv und realitätsnah.
Bei allem Ernst bleibt „Die Lüge“ leicht zu lesen und bittersüß hoffnungsvoll. Weitaus nicht alles in diesem Leben ist schlecht. Das erfährt Miki nachdrücklich, als er seinen Adoptivvater ins Kinderheim begleitet und die Lebensumstände der Kinder dort beobachtet. Er findet eine Ablenkung von seinem eigenen Leid und einen Sinn darin, sich um ein jüngeres Kind aus dem Heim zu kümmern. Der Kontrast zwischen dem Kinderheim und seinem eigenen Leben erinnert Miki daran, dass er es in seiner Familie gut hat – trotz der notwendigen Lügen, trotz der Konflikte, in ihrem familiären Mikrokosmos geht es ihnen besser als vielen anderen. Die Vertrautheit der Familie bietet einen Schutzraum gegen die oft feindselige Außenwelt. Das letzte Kapitel endet mit den Sätzen „Wie gut, dass ich nach Hause gegangen und nicht mit dem Mädchen auf der Eisbahn geblieben war. Zu Hause war es warm.“
Im Epilog bereitet sich die Familie auf den lange geplanten Umzug nach Kanada vor. Doch Miki bereut es, gehen zu müssen. Obwohl er früher Menschen beneidet hat, die in Europa oder Amerika geboren sind und es einfacher haben, merkt er, dass er seine Heimat nicht dafür eintauschen will. In diesem Spannungsfeld – in der Heimat bleiben oder dahin gehen, wo man freier leben kann – müssen viele Menschen weltweit leben.
Viele oppositionelle Autor*innen, Künstler*innen und LGBTQ*-Personen haben Russland inzwischen verlassen. Auch Franko ist wieder nach Kasachstan gezogen und hat angekündigt, erst nach Russland zurückzukehren, wenn der Krieg endet und die verantwortliche Regierung mitsamt der repressiven Gesetze gefallen ist.
Trotz des Verbots schreibt er weiterhin Bücher über die Themen, die ihm wichtig sind. „Ich habe beschlossen, wenn sie es mir verbieten, werde ich zweimal mehr über das Leben queerer Menschen schreiben“, sagte er in einem Interview mit Radio Svoboda im Dezember 2022. „Ich glaube, dass das nicht für immer ist. Die Jugend wird länger leben als die, die sich diese Gesetze ausgedacht haben.“
Grafik: Sara Wolkers
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