Bergluft
Bergluft ist sauerstoffarm, Laufen um des Laufens willen absurd und Schlafsäle in Berghütten sind kaum luxuriös. Und doch kann wandern trotz der Höhe so leicht den Boden zurück unter die Füße holen.
Meist geschieht es sehr plötzlich. Von einem Moment zum anderen blicke ich die auf grauen, gewundenen Straßen, die viel zu hohen Häuser, vermisse den Sternenhimmel und fühle, wie meine Lunge sich sträubt, auch nur eine weitere Sekunde diese enge, gedrängte, milchige Stadtluft zu atmen. Dann frage mich, was sich die Leute nur dachten, als sie Städte für eine fantastische Idee hielten, alles, was schön und pur, was Natur war, zupflasterten und das Ganze dann auch noch mit stinkenden Blechkisten bevölkerten. Ich frage mich dann vor allem, wie ich es mein ganzes Leben in einer Millionenstadt aushalten konnte.
Mindestens einmal im Jahr bleibt mir die Luft weg und ich fliehe. Vor zwei Wochen war es wieder so weit. Endlich. Ich floh. Fühlte mich endlich wieder so nah bei mir und so weit weg von allem. So klein und groß zugleich. So sehr wie meine Kindheitsheldin bei ihrem Almöhi. Ließ die Heidi in mir unter grünen Tannen und grünen Wiesen im Sonnenschein flitzen.
Das, was Berge in mir auslösen, ist mit nichts zu vergleichen. Groß, standhaft, sicher, zutraulich und doch so unerreichbar, so unwirklich ragten sie vor uns beiden in den Himmel. Erklommen wir einen kleinen Gipfel, teilten sie für einige Minuten ihren Ausblick mit uns. Wir konnten nicht bleiben, mussten den Weg ins Tal irgendwann wieder beschreiten, sind vergänglich. Sie nicht. Sie bleiben. Haben schon so viel gesehen. Scheinen ewig.
Das Gebirge hat sicherlich seine Tücken. Es zu bezwingen, gegen die Felsen anzukämpfen und sie zu nutzen, um sich groß, stark, unbesiegbar zu fühlen erschließt sich mir weniger. Es ist nicht das höher, weiter, stärker als alles und alle Sein-wollen, das mich am Wandern und Klettern so fasziniert. Ich hielt jeden Tag meine Füße in die kristallklaren Seen, konnte die eisige und belebende Kälte nur den Bruchteil einer Minute aushalten. Wenn ich dann hoch zu den schneebedeckten Gipfeln hinausblickte, war da nichts, das ich bezwingen und bekämpfen wollte. Da war nichts, das ich mir oder dem Berg beweisen musste, brauchte mich nicht über ihn zu stellen.
Berge ruhen so tief in sich. Wirken unbesiegbar. Bestehen aus unkaputtbarem Gestein. Doch all das, was sie umgibt, bleibt wohl nicht ewig so, wie Heidi und ich und all die Wanderer*innen, denen wir beide auf dem Weg begegneten, es kennen. Auch hoch oben steigen die Temperaturen. Gletscher schmelzen, Vegetation, Artenvielfalt verändern sich, die Systeme der Bergwelt funktionieren zunehmend nicht mehr so, wie sie es einst taten. Die Berge selbst aber, von denen nicht wenige Menschen glauben, sie bezwingen zu müssen und zu können, werden all das, was wir dem Leben auf der Welt antun, stumm und mächtig beobachten.
Der Filmemacher und Autor Werner Herzog spricht von der monumentalen Gleichgültigkeit der Natur. So verbunden ich mich dem Berg auch fühle, wenn ich die klare, kalte, sauerstoffarme Luft einatme, die ihn umgibt – er kennt mich nicht. Er war vor mir, bleibt nach mir. Ein schönes Paradox, sich so sicher zu fühlen, trotz der Willkür des Wetters, der Gefahr, die jeder wackelnde Stein birgt.
Wir saßen oft auf Felsen, die hier oben nicht mehr von Moos bewachsen sind, rätselten, ob dort hinten Ziegen, Gämsen oder Steinböcke herumsprangen und fühlten uns so aufgehoben in einer Natur, die wir nicht verstehen, nie verstehen werden und nie in ihrer Fülle erblicken können. Dafür reichen unserer Wissen und unsere Wahrnehmung nicht aus. Das müssen sie auch nicht. In den Bergen bin ich. Nicht mehr und nicht weniger – so theatralisch es klingt. Den Berg muss ich nicht verstehen. Doch ich werde zusammen mit dir zurückkehren. Immer dann, wenn mir die Stadtluft wegbleibt, sich meine Füße nach unerträglich kaltem Wasser sehnen und du mal wieder ein Murmeltier pfeifen zu hören hoffst.
Fotos: privat
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