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  • „Bevor ich den Raum betrete, tritt meine Nase ein“

    In Zeiten, in denen unsere Social Media Feeds mit schönen Gesichtern überschwemmt werden und Schönheitseingriffe immer beliebter werden, widmet sich Moshtari Hilal dem Gegenteil: Hässlichkeit.

    „Pferdefresse, / was hast du dir gedacht / so freundlich zu grinsen, / aus meinem Gesicht?“ 

    Auf dem Cover des Buches „Hässlichkeit“ prangt ein Foto der Künstlerin selbst. Es ist eine Aufnahme des Schulfotografen, die die 14-jährige Moshtari Hilal lange auf Fotos nicht mehr lächeln lässt. Die Jahre danach ist sie von ihrer Hässlichkeit überzeugt. Auf dem Cover ist das Foto jedoch so zerknittert abgebildet, dass es ins Komische rückt – die Nase scheint größer, das Lächeln verzerrt.  

    In dem Buch werden Hilals eigene Unsicherheit und ihr künstlerisches Schaffen zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit Hässlichkeit. Thematisch widmet sich die Autorin vor allem Hässlichkeit in Hinblick auf die Nase, Körperbehaarung, Krankheit und Tod. Die Kapitel sind assoziativ gestaltet, immer wieder kommt es zu Brüchen zwischen den Absätzen. Gemischt werden dabei autofiktionale Erzählungen, lyrische Einschübe und sachliche, historische Einordnungen. Beim Blättern fallen die verschiedenen Bilder ins Auge: Zeichnungen von Frauen mit großen Nasen und Härchen über der Oberlippe; Screenshots von Memes und TikTok-Filtern. 

    „Deine Nase verrät dich, / sie ist nicht von hier“ 

    Portrait Michelle mit Buch

    „Hässlichkeit“ ist durchaus ein Buch, das sich hübsch auf dem Nachttisch macht. Foto: privat

    Hilal widmet sich ausführlich den Schönheitsidealen der Nase. Diese Normen seien vor allem westlich und kolonialistisch geprägt. Hilal benennt Ausgrenzungsmechanismen und Rassismen, die mit bestimmten Körpermerkmalen verbunden sind. So habe der plastische Chirurg Jacques Joseph vermeintlich „jüdische“ Nasen korrigiert. Die Erzählerin selbst sei anhand ihrer Nase als Kurdin identifiziert worden. Hilal zeichnet die Entstehung der Rhinoplastik nach, der chirurgischen Nasenkorrektur, und beschreibt den gesellschaftlichen Druck auf junge Frauen, ihre „zu großen“ Nasen operieren zu lassen.  Ein weiterer wichtiger Punkt ist (starke) Körperbehaarung. Hilal schildert, wie sie mit großer Scham in ihrer Jugend oft zwischen Behaarung und der Konsequenzen der Haarentfernung wie Ausschlag oder Wunden entscheiden musste. 

    Die Angst vor Hässlichkeit umspannt ein ganzes Leben. Sie beginnt in einigen Kulturen beim Ausstreichen der Nase eines Neugeborenen, in der Hoffnung, dass die Nase klein bleibt. Sie reicht sogar über das Leben hinaus und spiegelt sich in aufwendigen Verfahren wider, mit denen Leichen präpariert werden. Das Ziel ist, dass die Toten auf der Bahre schöner aussehen als zu Lebzeiten. Mit all dem führt uns Hilal die gesellschaftliche Obsession mit Schönheit vor Augen. Dabei scheint die Hässlichkeit ein unausweichlicher Begleiter in Angesicht von Krankheit, Alter und Tod – mit dem wir Frieden schließen müssen. 

    Am Ende des Buches steht weder ein Plädoyer für Schönheitseingriffe noch ein Romantisieren der (eigenen) Hässlichkeit. Stattdessen spricht sich Hilal für eine Versöhnung aus, dafür, die schönen und hässlichen Teile eines selbst zu akzeptieren. Nach Revolution klingt das nicht – kann aber nach der jahrzehntelangen Überzeugung der eigenen Hässlichkeit zur heilenden Selbstoffenbarung werden. 

    „Hässlichkeit“ ist ein mutiges Buch, vor allem mutig in der Offenlegung von Scham. Darüber hinaus ist es eine spannende Auseinandersetzung mit einem Thema, das diametral verläuft zu Beauty-Filtern, Schönheitseingriffen oder Anti-Aging-Creme. „Hässlichkeit“ von Moshtari Hilal lässt sich wunderbar mit Freund*innen diskutieren und bietet Anlass für Debatte zu unseren Auffassungen von Hässlichkeit und Schönheit. 

     

    Grafik: Sara Wolkers

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