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  • „Es kommt proustiger, als du glaubst“

    Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist der Heilige Gral der Literatur. Denken viele. In Wirklichkeit ist es eine Cocktailbar, sodass für jede*n etwas dabei ist.

    Diese Rezension besteht aus den Outtakes eines Textes, der ursprünglich an die 12.000 Zeichen lang war. Wie soll es auch kürzer gehen, wenn er von einem Buch handelt, das 5000 Seiten stark ist? Fakt ist, dass es kürzer geht: Ich habe alles, was glatt und steril war, rausgenommen und die emotionalen Teile behalten. Schnallt euch an, liebe Leser*innen. Doch vor dem Start noch ein paar einführende Hinweise: 

    Der Ich-Erzähler Marcel erinnert sich erst an seine Kindheit auf dem Land, auf dem er sehr behütet aufgewachsen ist. Dann erzählt er von seinen Freund*innen, Bekannten und den Menschen, in die er sich verliebt hat. Schauplätze sind die Salons des Frankreichs des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, die Provinzwelt der Reichen und das Meer. Dorthin fährt man zur damaligen Zeit im Sommer, wenn man das Privileg hat, nicht arbeiten zu müssen, sondern zu erben. Und was tut man sonst noch so, wenn man nichts zu tun hat? Man parliert halbintellektuell über Kunst und Politik oder stürzt sich in Liebesaffären. Mittendrin unser Ich-Erzähler Marcel, der sich langweilt und mit fast schon gnadenloser Ironie auf das blickt, was um ihn herum geschieht. Er selbst erkennt sehr schnell, dass man sehr viel Zeit verlieren kann, obwohl man sehr viel davon zur Verfügung hat. Marcel will nämlich die ganze Zeit über endlich einen Roman schreiben, nur kommt er nie dazu. Was manchmal (das macht ihn sympathisch) auch daran liegt, dass er so schlecht nein sagen kann. 

    Genug der Inhaltsangaben, wir haben Starterlaubnis: Ich habe mich beim Lesen gequält. Meine Nettolesezeit waren ein paar Tage. Meine Bruttolesezeit über ein Jahr. Ich hätte das Buch zwischendrin fast aussortiert: Weil ich es unerträglich langweilig, zynisch, bisweilen auch frauenfeindlich fand. Weil es über weite Strecken wie eine einzige pessimistische, unlustige, emotional distanzierte Abrechnung mit den langweiligen Salonmenschen wirkt. Ja, an manchen Stellen, an vielen Stellen, musste ich lachen. Aber dieses Lachen war das Lachen, das manchmal passiert, wenn ein Witz eigentlich zutiefst geschmacklos ist. Aber andererseits gab es dann diese tolle Madeleine-Szene: Der Erzähler Marcel taucht eine Madeleine, ein Gebäck, in seinen Tee und weil er das Gebäck häufig in seiner Kindheit gegessen hat, entsteht ein unfassbar intensiver Erinnerungsmoment, die ganze Kindheit wird wieder in der Erinnerung präsent. Und dabei musste ich an meine eigenen Kindheit denken und eine tiefe Freude überkam mich, obwohl meine Kindheit in weiten Teilen sehr trostlos war. Aber es gab eben auch die schönen Momente. Auch das war Proust für mich: Ein In-Kontakt-Kommen mit meinem eigenen Leben. Und dann gab es irgendwann im zweiten Drittel des Romanriesen diese zwei Sätze, in denen Proust über eineinhalb Seiten schildert, wie im Erzähler Marcel abstrakte Gedanken, Erinnerungen und Gegenwarteindrücke mit Interpretationsversuchen dieser Gegenwartseindrücke zusammenkommen und ich auf einmal gefühlt habe, dass genau dieses Chaos auch in meinem Bewusstsein so oft entsteht und dass dieses Chaos wunderschön und wunderbar geordnet ist –  auf seine Art. Dass man es vielleicht nur in einem Satz darstellen kann, der fast eine Seite lang ist. Eine dünnbedruckte Seite. Und das Tolle war: Noch während ich die Tränen in den Augen hatte, kam direkt nach diesen Sätzen eine unfassbar witzige Stelle und ich musste lachen. Emotionale Bewegtheit und Lachen vereint. 

    Ein danieliges Bild

    Hier im Größenvergleich eine Stange Fenchel, mein Kopf, eine Flasche Wein und die Bücher. Foto: privat

    Und der Höhepunkt meiner Lektüre waren, so klischeehaft es klingt, die letzten Seiten. Ich muss diese zwei Sätze einfach zitieren. Sie zu lesen war im wahrsten Sinne des Wortes erschütternd. Wieder war ich in meiner Kindheit. Und habe verstanden, dass all die Phasen meines Lebens, die ich wie in einem Schwarz-Weiß-Zustand verbracht habe, nicht verloren waren. Dass ein Leben äußerlich noch so sehr scheitern kann und trotzdem etwas in sich trägt, was über die Einzelereignisse hinausgeht. Der Erzähler Marcel erinnert sich an das Läuten eines Glöckchens, dass die Abfahrt eines Gastes ankündigt und damit für Marcel bedeutet, dass seine Mutter jetzt endlich wieder Zeit für ihn hat. „Dort also (in der Erinnerung des Erzählers) lag dieses Läuten noch immer, und auch zwischen ihm und dem gegenwärtigen Augenblick diese ganze endlos weit ausgedehnte Vergangenheit, von der ich nicht wusste, dass ich sie in mir trug. Als es geläutet hatte, existierte ich schon, und damit ich dieses Läuten wiederhörte (als Erinnerung), war es seitdem nur erforderlich, dass kein Kontinuitätsbruch eingetreten war, dass ich nicht für einen Augenblick aufgehört hatte, zu existieren…“* Der Satz geht noch weiter, aber das Wesentliche waren für mich die Worte „dass kein Kontinuitätsbruch eingetreten war“ (zwischen der Vergangenheit, an die sich erinnert wird und der Gegenwart). Wie oft schon hat mich eine innere Leere bei dem Gedanken erfüllt, dass sich meine Vergangenheit über weite Strecken so anfühlt, als würde sie aus lauter unverbundenen Szenen bestehen. Nach diesen zwei Sätzen habe ich noch die letzten zwei Seiten des Buchs gelesen, mich zurückgelehnt (ich war im Park), mir einen Pulli über die Augen gelegt und die Tränen fließen lassen. Das ist Literatur. Und dass so ein Erlebnis trotz all der Dinge, die mich an der „Suche nach der verlorenen Zeit“ genervt haben, möglich ist, zeigt für mich, dass es sich wirklich um einen Klassiker handelt, denn ein Klassiker enthält nicht nur etwas, das zeitlos relevant ist, sondern vermittelt dieses Etwas auch so, dass es spürbar wird. Und wenn das gelingt, kann der Klassiker so viele Mängel haben, wie er will. So hoffe ich, dass mein Text das transportiert, was Proust für mich bedeutet und was auch jetzt, nach der Lektüre, immer noch in mein Leben hineindringt. Vor kurzem war ich im Cafe und es wurde ein Lied gespielt, dass ich aus dem Radio kannte; ein Lied, das damals immer gespielt wurde, als ich ungefähr zwölf war. Und schon war dieses emotional befreiende Kontinuitätsgefühl wieder da. Proust hat mir gezeigt, dass es existiert, sodass ich jetzt immer, wenn sich eine Gelegenheit anbietet, in etwas unfassbar Schönes eintauchen kann. Die erfahrene Kontinuität ist die Zeit selbst. Die Zeit, die in Momenten wie dem eben geschilderten nicht mehr verloren ist (und es niemals war). 

    Ein kleiner Tipp für die Lektüre: Proust schreibt unfassbar lange Sätze. Er bringt jede*n zu akribische*n Leser*in zum Scheitern. Irgendwann vergleicht der Ich-Erzähler Marcel seinen Bericht mit einer Auswahl an Brenngläsern, durch die etwas sichtbar werden soll. Man kann sich also beim Lesen vorstellen, zum*zur Optiker*in zu gehen und bestimmte Brillen anzuprobieren. Es bringt wenig, angestrengt durch eine Brille zu gucken, durch die man nichts sieht. Also schnell weiterlesen und die nächste Brille aufprobieren. Irgendwann wird klar, dass sich die Suche nach der verlorenen Zeit fast schon meditativ wiederholt und dass das, was gezeigt werden soll, immer dasselbe ist: Erstens kommt es anders, zweitens als du glaubst. Und drittens wirst du die Welt trotz dieser endlosen Wiederholungen am Ende radikal anders sehen. 

     

    * Das Zitat stammt aus der Übersetzung von Bernd Jürgen Fischer, die im Reclam-Verlag erschienen ist. 

     

    Grafik: Sara Wolkers

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