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  • Ein Kleinwagen in der Maismiliz

    Fahrradreisen erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Kolumnist Jan Arne empfiehlt allerdings, eine solche nie allein zu unternehmen und Getreidefelder zu meiden. Man(n) kommt sonst auf dumme Gedanken.

    Auf Tiktok warnen junge Frauen sich gegenseitig vor der ersten männlichen quarter-life-crisis, die sich etwa in der Anschaffung eines viel zu teuren Fahrrads bemerkbar mache. „Er wird nur noch davon reden“, warnt eine engagierte Nutzerin, und fügt hinzu: „Es wird aus einem komischen Material namens Carbon sein“. 

    „So ein Quatsch“, denke ich mir, während ich einen Feldweg verlasse und mich, nun wieder auf asphaltierter Straße, schnell, aber unsicher, der polnischen Ostsee nähere: „Carbon ist ja noch viel teurer.“  

    Billig war mein neues Rad trotzdem nicht und, naiv wie ich bin, musste ich damit bei meiner ersten Mehrtages-Tour natürlich auch noch ganz allein losfahren. Aber hier bin ich jetzt. Zu meiner Linken der Deich, der den Blick auf die idyllische Weichsel versperrt, zu meiner Rechten Mais. Die Kolonialpflanze prägt die platten Landschaften Mitteleuropas wie kein anderes Getreide, was die Strecke wohl authentisch, auf keinen Fall aber besonders sehenswert macht. Idiotisch eigentlich, man würde ja auch nicht freiwillig durch die Uckermark oder Niedersachsens Agrarindustrie radeln. Vielleicht ist an der Tiktok-Warnung mehr dran, als ich zugeben wollte: Musste ich mir beweisen, dass ich mental und muskulär 1000 Kilometer auf zwei Reifen zurücklegen kann? Oder hatte ich wirklich Lust, drei Tage lang nur Mais zu sehen und meine Gedanken schneller kreisen zu lassen als die Pedale unter mir? Mit weiteren Personen wäre das alles kein Problem – die Pausen würden Spaß machen, der Abend im Zelt wäre gesellig. Ich scheine Zeit für mich selbst mit einem Selbstgespräch verwechselt zu haben. Und um mich herum nichts als Mais, Mais, Mais. 

    Jan Arne Portrait

    UWAGA – beinahe wäre ich durch meine Radtour sehr reich geworden.

    An einem Baum zu meiner Linken hängt ein A4-Papier in Klarsichtfolie – dem Anschein nach sucht jemand sein oder ihr Haustier. Bereits vor 20 Kilometern habe ich ein solche Vermisstenanzeige erspäht, deshalb werde ich neugierig. Es geht tatsächlich um ein Haustier. Die polnischen Details kann ich nicht lesen, doch das ist irrelevant: Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. 10.000 Złoty Finderlohn! Das sind über den Daumen 2.500 Euro, was nur zweierlei bedeuten kann: Entweder, die Besitzer*innen hängen sehr stark an diesem Hündchen oder das Tier ist sehr viel Geld wert. Weil die erste Version langweilig ist, entscheide ich mich für letztere. Natürlich hat man schonmal von Hunden gehört, die reinrassig gezüchtet werden und einen Arsch voll Geld kosten. Dem Text entnehme ich aber, dass das vorliegende Exemplar höchstens 2,5 Kilogramm wiegt, was hieße, dass jedes Gramm Hund einen Euro kostet. Die Herrchen und Frauchen suchen eine Delikatesse! Nun ist es um meinen armen Kopf geschehen, die Gedanken rasen. Wenn ich das entlaufene Tier nun fände, könnte ich es sicher für ein Vielfaches des Finderlohns auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Werden Hunde gechipped? Wo finde ich Abnehmer:innen in Sachsen? Dealen Menschen in Hundezuchtvereinen? 

    Dann schießt mir das Bild des Hündchens wieder in den Kopf und ich verliere die Hoffnung, dass das Tier die letzten Tage im Maisfeld überlebt hat. Die dünnen Beinchen sehen so schwach aus, als könnte ein Grashüpfer dem Hund einen Gehfehler verpassen. Wahrscheinlich wurde das 2.500 Euro-Hündchen noch am Tag seines Verschwindens von einem Rudel Stabheuschrecken gefressen. Ganz besessen jage ich nun doch das Foto durch Google-Übersetzer und glaube zu wissen, dass der Hund mit Wüstenfuchsohren Kazik heißt und tatsächlich 2,5 Kilogramm schwer ist. Ob er vielleicht absichtlich ausgebüchst ist und nun ein Aussteigerleben führt? Vielleicht hat er sich einer Kommune von Hamstern angeschlossen, die Heilsteine am Flussufer sammeln und abends Algen rauchen? Kazik könnte aber auch von der berüchtigten Feldmaus-Guerilla rekrutiert worden sein, die sich mit Anschlägen auf Traktoren gegen den rigorosen Pestizideinsatz der EU-Landwirtschaft wehrt und sich in einem ausgeklügelten Tunnelsystem versteckt. Ja, womöglich war Kazik ein V-Hund und ist aufgeflogen, weshalb er fliehen musste und nun unter seinem Kampfnamen… 

    Ich mache eine Vollbremsung und halte inne. Vor mir auf der Straße, zur Unkenntlichkeit verunstaltet, liegt ein plattgefahrener Kadaver. Es ist völlig unmöglich zu beurteilen, was dieses Fellknäuel einmal war, bevor ein 5-Tonner es überfuhr und den Fliegen überließ. Man hatte das ganze wie einen Unfall aussehen lassen.  

    Etwas ratlos setze ich mich wieder in Bewegung, etwas Spannenderes wird mir heute wohl nicht mehr passieren. Fest steht: Fahrradfahren nur noch in Begleitung. Schade, dass Kazik´s Finderlohn nicht mit den Worten tot oder lebendig ausgesetzt war. Das wärs gewesen, mein neues Carbonrad.  

     

    Fotos: Jan Arne Friedrich

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