Das Warten muss ein Ende haben
Das Warten auf einen Therapieplatz dauert lange, kostet Betroffene und Angehörige viel Kraft. Der Orga-Kreis „Psychotherapie? Mangelware!“ setzt sich für mehr barrierearme Therapieangebote ein.
Psychische Erkrankungen sind keine Seltenheit. Laut Analysen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (dgppn) sind in jedem Jahr etwa 27,8 Prozent der erwachsenen Bürger*innen betroffen. Laut dem Bundesministerium für Gesundheit erhält bundesweit jede dritte Person zumindest einmal im Leben eine Diagnose für eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung. Oft ist eine psychologische Psychotherapie ein wichtiger Bestandteil der Linderung von Symptomen und des Heilungsprozesses. Der Bedarf an Psychotherapieplätzen ist hoch – doch bundes- und landesweit nicht gedeckt.
Der Orga-Kreis „Psychotherapie? Mangelware!“ setzt sich seit 2022 für eine Anpassung der psychotherapeutischen Versorgung ein. Am 26.08.2023 veranstaltete die Gruppe mit mittlerweile 15 festen Mitgliedern ihre zweite große Demonstration in Leipzig. Carolina, eins der Mitglieder, sagt deutlich: „Wir brauchen mehr Psychotherapieplätze in Sachsen. Jetzt!“.
Nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer beträgt die durchschnittliche Wartezeit auf einen Therapieplatz etwa 20 Wochen. In Einzelfällen deutlich mehr. Das zeigen Abrechnungsdaten der kassenärztlichen Bundesvereinigung von 2019. Diese Zahlen beschreiben den Zeitraum zwischen Erstgespräch und Therapiebeginn. Auch einem Erstgespräch gehen nicht selten unzählige Anrufe in Praxen und Absagen voraus.
Seit Beginn der Corona-Pandemie ist die durchschnittliche Wartezeit gestiegen. Das gilt vor allem für die psychotherapeutische Behandlung von Kindern. Eine Studie der Universität Leipzig und der Universität Koblenz-Landau zeigt eine Verdoppelung der Wartezeiten für Kinder auf nun durchschnittlich 25 Wochen.
Die psychotherapeutische Versorgung unterscheidet sich besonders stark zwischen dem städtischen und dem ländlichen Raum. Carolina erklärt, in der Stadt stünde ein*e Therapeut*in für etwa 3.000 Menschen zur Verfügung. In ländlichen Gebieten seien es 6.000 Menschen.
Wie kommt diese Unterversorgung zustande? Für Psychotherapeut*innen ist ein Kassensitz die Voraussetzung für die Behandlung von Personen, die gesetzlich krankenversichert sind. Die Anzahl zu vergebener Kassensitze ist auf die Zahl der existierenden Psychotherapeut*innen des Jahres 1999 begrenzt. Damals zählte man Psychotherapeut*innen in West- und Ostdeutschland und limitierte die Anzahl der vergebenen Kassensitze auf diese. In Leipzig sind heute alle Kassensitze vergeben. Es wird von Vollversorgung gesprochen. Ein Blick auf die Wartelisten der Psychotherapiepraxen lässt allerdings annehmen, dass diese Vollversorgung nicht bedeutet, dass für Betroffene tatsächlich eine bedarfsgerechte Vollversorgung besteht. Die Bundespsychotherapeutenkammer gibt an, dass sich der Bedarf an Psychotherapie in den letzten 20 Jahren nahezu verdoppelt hat.
Es scheint paradox, doch dieser Mangel besteht nicht, weil es nicht ausreichend ausgebildete Psychotherapeut*innen gibt. Ganz im Gegenteil. Nur etwa die Hälfte aller Psychotherapeut*innen in Deutschland haben einen Kassensitz. Doch neue Niederlassungen sind kaum mehr möglich, da viele Teile Deutschlands als voll- oder gar überversorgt gelten. Die Niederlassung als Psychotherapeut*in ist mit einem hohen finanziellen Aufwand verbunden. Für die Zulassung zur Kostenabrechnung mit den gesetzlichen Krankenkassen bezahlen Therapeut*innen bis zu 100.000 Euro.
Auf der Demonstration von „Psychotherapie? Mangelware!“ teilen Betroffene – meist anonym – ihre Erfahrungen: „Lange Wartezeiten, viele Telefonate in einer Zeit, in der jedes Gespräch für mich eine Herausforderung war“. „Ich hatte keine Wahl, als die 30 km Entfernung zu meiner Therapeutin in Kauf zu nehmen“. „Mein Mann und ich suchten gemeinsam einen Therapieplatz für ihn. Doch für Nicht-Deutsch-Muttersprachler*innen ist das ein Ding der Unmöglichkeit“. All diese Schilderungen zeigen lediglich einen kleinen Ausschnitt der Hürden für Betroffene und verdeutlichen: Lange Wartezeiten sind keine Banalität. Psychische Erkrankungen stehen nicht selten in Wechselwirkung mit verschiedenen chronischen und körperlichen Leiden. Das lange Warten kann Symptome verstärken und das Risiko erhöhen, dass Erkrankungen chronisch werden.
Gesetzlich versicherte Personen brauchen denselben Zugang zu einer psychotherapeutischen Beratung oder Behandlung wie Personen, die über die finanziellen Mittel verfügen, eine Therapie selbst zu finanzieren oder privat versichert sind. Die Knappheit der Kassensitze verhindert das. So scheint die psychotherapeutische Versorgung nicht selten eine Frage des Geldes zu sein. Und das, obwohl gerade Menschen in Armut einen hohen Bedarf haben. Ein Drittel der männlichen und 40 Prozent der weiblichen Personen, die in Armut leben, sind laut dem Robert-Koch-Institut von psychischen Erkrankungen betroffen.
Personen ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland ist der Zugang zu einer psychotherapeutischen Versorgung im Regelsystem besonders erschwert. Cabl e.V. ist eine Clearingstelle, die Sozialberatung bietet und anonyme Behandlungsscheine an Menschen vergibt, die zunächst keinen Zugang zum Gesundheitssystem und einer psychotherapeutischen Versorgung haben. Der Verein unterstützt die Demonstration und beschreibt in seinem Redebeitrag, wie Sprachbarrieren, häufige Wohnortwechsels und viel Bürokratie eine ambulante Therapie für Menschen ohne Papiere oder Krankenversicherung erschweren. Auch für Wohnungslose sei die Suche nach psychotherapeutischer Beratung keinesfalls barrierearm. Eine Integration in das Regelversorgungssystem für alle sei längst überfällig.
„Psychotherapie? Mangelware!“ verfolgt dieses Ziel weiter und setzt sich für einen barrierearmen Zugang, diskriminierungsfreie Psychotherapie und vor allem mehr Therapieplätze ein. Carolina erzählt: „Mit unserer Arbeit erhoffen wir uns mehr Aufmerksamkeit für Betroffene, Angehörige und Berufstätige in diesem Bereich. Mitmachen kann jede Person, die sich für das Thema interessiert. Klar ist, die künstliche Verknappung von Psychotherapieplätzen muss aufhören. Wir brauchen ein diskriminierungsfreies, inklusives und umfassendes Gesundheitssystem.“
Fotos: Lene Göschel
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.