Meiner Zeit voraus?
Kolumnistin Lene hat keine Zeit. Oder besser: entweder zu viel oder zu wenig von ihr. Dabei ist Zeit alles, etwas Kostbareres haben wir nicht. Wie können wir dem Zeitnotstand entgehen?
Zeit. Ich habe sie nicht. Vorwärts, rückwärts, seitwärts, ran, Hacke, Spitze, hoch das Bein und weiter und weiter und weiter flitze ich von Tagesordnungspunkt zu Tagesordnungspunkt. Mit dem Gefühl, von dem einen Termin in die nächste Veranstaltung und in das nächste Social Gathering katapultiert zu werden, stolpere ich durch meine Tage. Mein Kopf ist der Uhr wohl immer einen Schritt voraus, hat alle in Frage kommenden Aktivitäten, die als nächstes anstehen könnten, präsent. Ein kurzer Blick auf die Uhr heißt nicht etwa „Jetzt ist es 12:15 Uhr.“ Er löst vielmehr etwas aus wie: „In einer Dreiviertelstunde muss ich dort sein, um das zu tun und ich brauche 20 Minuten dahin und möchte noch etwas essen und ach ja, heute Abend bin ich verabredet, aber ich hab‘ ihm noch nicht geantwortet. Mist, okay also 20 Minuten, ja dann fahre ich also gleich los, mit dem Fahrrad oder der Bahn? Mit dem Fahrrad, das geht schneller. Was esse ich? Kann ich auch da essen? Hab‘ ich eigentlich Hunger? Ich antworte ihm mal schnell. Aber ich wollte ja heute eigentlich noch schreiben und die Ausstellung, die geht ja nur noch bis übermorgen, ich sollte mehr in Ausstellungen gehen, jetzt antworte ich ihm aber wirklich.“ Es ist 12:15 Uhr. Ich habe noch Zeit. Ich habe meistens noch Zeit. Und doch habe ich gar nicht wirklich mitbekommen, dass es 12:15 Uhr war. Die Uhr zeigt mir ein „Eine-Dreiviertelstunde-bis“.
Später meine abendliche Verabredung. Ich bin zu spät. Weiß nicht, wo die Zeit wieder hin ist. Habe ich viel gemacht? Ich habe eine Decke eingepackt, musste nochmal zurück, weil ein Pullover abends im Park sicher gut ist, und ach ja, die Musikbox, ist denn in der Nähe ein Späti? – Nein, ich besorge besser vorher noch etwas zu trinken. Ich bin also zu spät, etwa fünf Minuten. Er sitzt schon auf der Wiese und liest. Er hat keine Decke und nichts zu trinken dabei. Er hatte vermutlich auch keine Zeit mehr dafür.
Und manchmal steht sie, die Zeit. Jetzt steht sie. Jetzt bin ich krank. Bin erkältet, langsam, schwer, friedlich, gemütlich und gelangweilt. Unerträglich. Der Zeiger will sich einfach nicht bewegen. Es ist 12:15 Uhr. Es ist nun seit einer Dreiviertelstunde 12:15 Uhr. Und auch damit scheine ich nicht zufrieden. Das süße Nichtstun ist mir zu zäh. Etwas ist gegen diese Langeweile zu tun. Ich bin zwar langsam, huste, mein Kopf schmerzt etwas. Doch es gelingt nicht, die Zeit einfach die Zeit sein zu lassen und tatsächlich nichts zu tun. Viel besser scheint es mir, diese nun gewonnene Zeit endlich für die Dinge zu nutzen, für die die Tage sonst zu kurz sind. Wundervoll! Also: Projekt „Krankseinignorieren und nun endlich (!) die gewonnene Zeit für mich nutzen“ kann beginnen. Diese Bücher kann ich lesen. Diese Dokumentationen gucken. Mal wieder zeichnen. Diese fünf Anti-Erkältungssäfte selbst machen – habe ich auf Pinterest gesehen. Mein Bücherregal neu sortieren. Spazierengehen – das soll doch guttun, wenn man krank ist. Ein Erkältungsbad nehmen. Häkeln. Journaling. Klavierspielen. Und vielleicht noch, oh, nanu? Da ist sie mir schon wieder entwischt, die Zeit, schon wieder habe ich keine mehr. Schon wieder stolpere ich weiter – krank(!) – von Wohlfühltagesordnungspunkt zu Wohlfühltagesordnungspunkt.
Es ist nicht allzu schwer zu erklären, wo das Gefühl des konstanten (Zeit-)mangels seine Ursprünge findet. Gilt das Motto „Zeit ist Geld“, ist sie kostbar, will wohl genutzt werden, das Bestmögliche ist aus ihr herauszuholen. Hat man nicht viel Geld, kann man sich die Zeit nicht kaufen, hat nicht selten weniger Freizeit, erlebt die Zeitarmut noch mehr. Bin ich weiblich sozialisiert, bin ich vielleicht nicht frei davon Care-Arbeit für mich und andere zu betreiben und dabei nicht zu spüren, wann ich übertreibe. Übertreibe, weil mein Körper Grenzen hat. Grenzen, die ich zu spät setze, weil ich nicht gelernt habe, sie zu setzen. Weil dieser „Mental-load“ mir normal und nicht vermeidbar scheint.
Zeit ist kostbar. Gehe ich nach der durchschnittlichen Lebenszeit von Menschen in Industrienationen, lebe ich etwa 80 Jahre – 4.000 Wochen. 4.000 Wochen scheinen ungut wenig Zeit zu sein. Doch mit jedem bewusst erlebten Moment fühlen sich diese 4.000 Wochen Lebenszeit reicher und länger an. Je mehr Erinnerungen ich habe, über desto mehr erlebte Zeit verfüge ich.
Es gilt also seine Zeit zu nutzen. Und das heißt nicht, dass jede Sekunde die vorangegangene übertrumpfen muss, jeder Moment ein guter sein soll. Es heißt nur, dass ich diese Sekunden doch ganz gern mitbekommen würde. Sie nicht davonfliegen lassen, sie wirklich fühlen will. Ich möchte vor allem, dass ich die Grenzen meines Körpers, meines Kopfes kenne. Dass ich mich um meinen Kopf kümmere, mir die Zeit für ihn nehme. Damit ich nicht durch mein Leben hindurchstolpere.
Das ist sicher nicht immer leicht. Zu schnell erstelle ich mentale Listen, verfalle in das Abhacken von Dingen, die mir doch eigentlich guttun sollen.
Es gelingt immer öfter. Es gelingt bei einem guten Buch. Dann versinke ich in einer Welt, die mir während des Lesens wichtiger scheint als meine eigene. Fühle Gefühle, die nicht meine sind. Denke die Gedanken der Figuren, die nicht meine eigenen sind. Vielleicht ist das Flucht. Vielleicht gelingt so aber auch Distanz von den eigenen Listen, denn sie werden kleiner, leiser, banaler. Vielleicht ist es wundervoll, die eigene Gefühlswelt mit der der Figuren verschmelzen zu sehen. Vielleicht sind meine eigenen Gedanken oft gar nicht allzu interessant.
Es gelingt bei den schon viel zu oft beschworenen kleinen Dingen. Bei den Dingen, die nicht nur Floskel und Klischee sind.
Es gelingt beim langsamen Atmen.
Es gelingt beim Fahrradfahren.
Es gelingt, wenn ich in die Sonne schaue oder mich auf den Regen konzentriere.
Es gelingt immer beim Lachen. Es gelingt immer bei Trauer.
Innehalten. Sonst verpasse ich meine 4.000 Wochen.
Titelbild: Pixabay
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