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  • Der Zauber überraschend neuer Wörter in alter Umgebung

    Christine Johanna Seidensticker begibt sich in ihrem Lyrikband „Halbtonschritte“ auf die Suche nach Sinnlichkeit in der Natur und in der Sprache.

    In ihrem ersten Lyrikband versammelt Christine Johanna Seidensticker 35 Gedichte, in denen das Spüren und Aufspüren im Vordergrund steht. So führt uns die Autorin in ihrem ersten Gedicht Kinderschuhe an grauen Wänden entlang. Das Hinauf und Hinab des Fahrstuhls, die Berührung des Fingers an der Wand sowie das Spiel von Schatten und Licht vermitteln Beweglichkeit. An diesem kargen Ort fordert die Autorin zum selbst Spüren auf und führt die Leser*innen über die Gegenwart hin zu traumhaften Erinnerungen.  

     

    Kinderschuhe 

    Dieser Aufzug in Görlitz. Ohne Innenwände 

    schob er sich, schob sich hinauf 

    und Stockwerke hinunter. Dein Finger schliff 

    grenzenlos gegenwärtig, die Bewegung zu spüren 

    eine graue Wand entlang. Wir waren im Zwischenraum 

    seltsam ausgeleuchteter Schatten 

    und gleichmäßiger Sinkgeschwindigkeit. Anderntags 

    steckten wir unsere Fußspitzen in Kinderschuhe. 

    Was wir formten, waren Spuren 

    in Freilichtkammern. Paradox 

    heimlich der Lückenmut. 

     

    Beim Lesen der Gedichte wird das eigene physische Fühlen, ein Fühlen von Nähe anderer Körper oder Gegenstände ausgelöst. Diese Intimität findet an befremdlichen Orten oder in seltsamen Situationen statt. Ob es sich dabei um Realität oder einen Traum handelt, bleibt den Leser*innen selbst überlassen.  

    Die Unstimmigkeiten werden in der Metapher im Titel des Bandes Halbtonschritte angekündigt, der auf ein eher dissonantes Klangphänomen der Musik verweist. In kleinen Schritten führt die Dichterin in ein Geflecht von Bildern, das nicht dem Mainstream entspricht und sich gegen die Erwartungen stellt.  

    Zu erklären ist das Gefühl der Fremdheit durch das Auftauchen von Orten einer industrialisierten, modernen Welt in einem von Natur dominierten Setting. So wird im Gedicht Maulbeeren über liebevolle Szenen in Bettlaken mit Blick hinaus in die umflochtenen Zweige der Bäume geschrieben. Dann wartet das artikulierte Ich  

    auf dem Hügel 

    beim Strommast, den rosenweiten Wolken 

    und finde euch schön, so wie ich euch sah. 

    Und auch der bunte Puffreis wird in Neonfarben zur geschmackvollen Erfahrung im Spiel des Lichts im „Traum von tanzenden Linden“. Diese befremdlichen Dinge wie der Aufzug, Strommast, oder Puffreis werden in ihren Gedichten zum Ereignis eines sinnlichen Erlebens gemacht. Die Autorin schafft eine ungewöhnliche Verbindung zwischen diesen Elementen und dem physischen Spüren und Erleben von Gedanken. Sie hinterlässt die Leser*innen verwirrt und überrascht von einer befremdlichen Perspektive oder sogar mit einem neuen Gefühl.  

    Das Besondere der Gedichte ist die Natur, die sich wie ein roter Faden durch die Vielfalt ihrer Gedichte zieht. Die Autorin verharrt jedoch nicht bei Beschreibungen der Natur, sondern erweckt diese zum Leben: „der See atmet in Wellen“ (Juninote). Damit wird eine Nähe zur Natur hergestellt, die das individuelle sinnliche Erleben in den Vordergrund stellt. Das besondere Erleben von Naturphänomenen im Einzelfall lassen die aktuelle gesellschaftliche Debatte um den Krisenstand der Natur aus. Es geht in ihren Gedichten nicht um eine konkrete Abbildung der Natur wie in Texten des nature writing, sondern um die Vielfältigkeit, Beweglichkeit und vor allem Lebendigkeit. 

    In ihrer Darstellung von Intimität kommt es nicht selten zu einer Auflösung der Grenze zwischen Menschen und Natur. Das Zusammenspiel von Natur und nackter Haut kommt in ihren Gedichten vor, so in Sommerbrise 

    streifen Gedanken auf Wurzelsohlen 

    durch ungereimte Ortfragmente 

    zurück auf Haut 

    Die Verschmelzung von Menschen mit einer intakten Natur zeigt deutlich die Notwendigkeit der Natur für das menschliche Leben und Fühlen in den Gedichten.  

    Somit macht sich die Autorin die Natur zu eigen sowie sie die Sprache auch ganz selbst zu beherrschen scheint. Sie überrascht mit sprachlichen Spielereien. So wird „sich die Beine in den Bauch stehen“ im Gedicht Präriesommer mit dir zu „Wir haben uns die Bäuche ins Feld gestanden“. Dann erfindet sie einen Versschauer, der das artikulierte Ich plötzlich überkommt. Schauerlich ist bestimmt für einige Leser*innen der Gedanke an die Gedichtinterpretation in der Schule. Kreativ verwirrt sie die Leser*innen mit den Eigenheiten der deutschen Sprache. Sie treibt ihr sprachliches Spiel zum Äußersten, bis sich die Leser*innen fragen, wie verständlich das eigentlich noch ist – sicher ist: viel Spaß ist auch dabei.  

    Die Gedichte von Christine Johanna Seidensticker erwecken ein neues Erleben von Natur und Sprache. Dabei erinnert ihr eigenwilliges Sprachspiel ganz besonders an Texte der Dichterin Friederike Mayröcker. Im Band Halbtonschritte geht es um traumhafte Besinnungen auf die Natur und das Erleben körperlicher Intimität durch ein virtuoses und verschmitztes Sprachspiel. Die Auflösung der Grenze zwischen Natur und Mensch verbleibt jedoch im Traumhaften und fordert einen kreativen Umgang mit den Gedichten beim Lesen, um die Leerstellen und Unklarheiten selbst zu füllen oder zu erfühlen. 

     

    Grafik: Sara Wolkers

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