Wenn die Vergangenheit zur Gegenwart wird
Das Theaterstück „Das sieht man hier nicht gern!“ in den Cammerspielen Leipzig zeigt auf, wie unsere Jugendsünden uns Jahre später einholen können.
Eine verblichene Couch, wild herumliegende Kleidung, ein Haufen Papier, Umzugskartons: Dieses Bild ist es, was Torsten Siebert (gespielt von Max Oskar Henel) empfängt, als er mit seiner Freundin Sarah (Sandra Naleppa) übers Wochenende in seine Heimat zurückkehrt, um das Haus seiner verstorbenen Mutter auszuräumen. Es soll ein kurzer Ausflug werden, alles in die Container und zurück nach Hause in die Großstadt, doch dann entwickeln sich die Dinge anders als geplant: In der Kleinstadt, in der Torsten aufgewachsen ist, trifft er auf seine Kindheitsfreunde Kai und Ralf (gespielt von Sebastian Geiger und Damian Reuter) – die Wiedersehensfreude hält sich in Grenzen. Torsten, der seine Mutter nie „Mama“, sondern immer nur „Petra“ nennt, ist vor Jahren in die Großstadt verschwunden. Als seine Mutter krank wurde, haben Kai und Ralf die Pflege übernommen. Als die drei nach all den Jahren wieder aufeinandertreffen, können Konflikte nicht ausbleiben: Kai und Ralf werfen Torsten vor, seine Mutter im Stich gelassen zu haben, sie wollen Dank für ihre Hilfe, und als Torsten dann noch herausfindet, dass Petra ihnen Haus und Auto vermacht und ihm selbst nur Kredite hinterlassen hat, bricht die Fassade, hinter der er sich über Jahre hinweg verschanzt hat, endgültig zusammen. Aus dem liebevollen „Schmusebär“, wie seine Freundin Sarah ihn nennt, wird ein reizbarer, aufbrausender Mann, der ganz offensichtlich etwas verheimlicht. Stück für Stück erfährt Sarah die dunklen Details – und kommt hinter ein grausames Verbrechen, dass die drei Freunde Torsten, Ralf und Kai über Jahre hinweg zusammengeschweißt hat.
„Das sieht man hier nicht gern!“ ist ein Stück, das mit Vorurteilen arbeitet: Sei es die ostdeutsche Kleinstadt, in der jede*r jede*n kennt und rechte Gesinnungen in den Köpfen der Menschen vorherrschen, oder die „Großstadtgöre“ Sarah, deren Hauptsorge es lange Zeit bleibt, an Internet zu gelangen: Überraschungen halten die Charaktere nicht gerade bereit, vielmehr erfüllen sie all die Klischees, die man als Zuschauer*in typischerweise im Kopf hat. Lebendig wird das Stück durch etwas ganz anderes: Das Publikum kann nicht nur die Worte und Handlungen der Charaktere verfolgen, sondern auch ihre Gedanken. Immer wieder pausiert die Szene, Scheinwerfer tauchen die Bühne in blaues Licht und aus Lautsprechern ertönt die Stimme einer der vier Hauptpersonen, die uns genau erzählt, was sie gerade denkt. Sarahs Verzweiflung, als sie erfährt, dass ihr Freund Torsten, mit dem sie seit acht Jahren zusammen ist, gar nicht der ist, für den sie ihn hält. Torsten, der panisch versucht, sein größtes (und dunkelstes) Geheimnis zu bewahren. Kai, der einfach immer irgendwie dabei ist, auf den ersten Blick zu allem „Ja“ und „Amen“ sagt und dabei selbst ein Geheimnis hat, das er um jeden Preis geheimhalten will. Ralf, der wütend wirkt, frustriert von seinem ewigen Kleinstadtleben, seiner unglücklichen Ehe und der kleinen Tochter, zu der ihm seine Frau manchmal den Kontakt verwehrt, wenn er mal wieder betrunken vor der Tür steht. Sie alle werden mit ihren Gedanken und Gefühlen greifbarer, wann immer das Stück pausiert und sie uns über Lautsprecher erzählen, was gerade in ihren Köpfen vor sich geht.
Obwohl die gesamte Handlung des Stücks auf einem schrecklichen Verbrechen basiert, das über Jahre vertuscht wurde, gibt es Szenen, in denen das Publikum herzhaft lachen muss, denn irgendwie wirken sie alle vier ein wenig lächerlich mit ihrer Ratlosigkeit, ihren dunklen Geheimnissen und ihrer völligen Überforderung bei der Frage, wie sie mit diesen umgehen sollen. Stück für Stück wird klar, dass eigentlich keine*r von ihnen das eigene Leben so richtig im Griff hat, vor allem Torsten nicht, obwohl der doch durch seinen Umzug in die Großstadt den Absprung geschafft hat – so nimmt er es zumindest wahr. Und selbst Sarah, die mit der ostdeutschen, rechten Kleinstadt selbst eigentlich nichts zu tun hat und der es sehr wichtig ist, als emanzipierte und selbstständige Frau zu erscheinen, verliert langsam, aber sicher die Kontrolle. Falls sie sie überhaupt je wirklich hatte. Am Ende des Stücks steht der Gedanke, dass die Vergangenheit nie wirklich vergangen ist und uns immer wieder einholen kann.
„Das sieht man hier nicht gern!“, ein Stück über Freundschaft, Familie, Verrat und Verunsicherung, ist noch bis zum 29. Oktober in den Cammerspielen Leipzig zu sehen.
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