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  • „Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim“

    Das Projekt „Blackbox Heimerziehung“ will über die grausamen Zustände in den Kinderheimen der DDR aufklären.

    „Ein Klaps auf den Po hat noch keinem geschadet.“ 

    Würdest du dieser Aussage zustimmen? Seit November 2000 hat jedes Kind in Deutschland das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Doch November 2000 ist noch gar nicht so lange her, und bis dahin war Gewalt in der Erziehung keine Seltenheit – das gilt auch für die Kinderheime der DDR. Genau diesem Thema widmet sich die „Blackbox Heimerziehung“. Das Projekt der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau (das einzige offiziell geschlossene Heim der DDR) will laut Website die „Geschichte der repressiven Heimerziehung in der DDR zurück an die historischen Orte ehemaliger Umerziehungseinrichtungen“ bringen.  

    Einer dieser Orte ist das Durchgangsheim Leipzig, das von 1951 bis 1986 an verschiedenen Standorten in Leipzig Kinder und Jugendliche im Alter von zehn bis 18 Jahren beherbergte. Wobei „beherbergte“ wohl ein zu freundlicher Begriff ist, denn wie in den Heimen der DDR üblich herrschten auch hier gewaltsame Erziehungsmethoden.  

    In Erinnerung daran hat das Projekt „Blackbox Heimerziehung“ bis zum 14. November auf dem Leipziger Nikolaikirchhof seinen Standort gefunden. In dem auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Container werden die Geschichten ehemaliger Heimkinder erzählt und historisch eingeordnet.  

    Das Projekt bietet Interessierten auch die Möglichkeit, selbst ihre Meinung abzugeben.

    Begrüßt wird man draußen von säulenartigen Ständern, die Besucher*innen die Möglichkeit bieten, ihre eigene Meinung abzugeben. Statements wie „Ein Klaps auf den Po hat noch keinem geschadet“ stehen dort. Mit gelben Chips können die Leute im Vorbeigehen abstimmen, ob sie dieser Aussage zustimmen oder sie ablehnen. Die Stimmungsbilder variieren. Die oben genannte Aussage lehnen die meisten Menschen ab, doch es gibt auch Zustimmung. Die Aussage „Jedes Kind hat das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung“ bewerten zwei Menschen mit „Nein“, der Großteil jedoch stimmt zu. Deutlich ausgeglichener ist die Meinung bei der Frage, ob Zwangsmaßnahmen wie Fixierung und Isolierung in der Jugendhilfe grundsätzlich verboten werden sollten: Auf den ersten Blick ist unmöglich zu sagen, ob sich in der „Ja“- oder in der „Nein“-Box mehr gelbe Chips befinden. 

    Viele Menschen machen beim Vorbeigehen kurz Halt an einer der Säulen, um abzustimmen oder sich Informationen zur Heimerziehung durchzulesen. Nur wenige betreten den Container, dabei wird erst hier das schreckliche Ausmaß der Heimerziehung der DDR zum Ausdruck gebracht: Fotos und Zitate von ehemaligen Heimkindern erzählen von Zwangsisolierung, schwerer körperlicher Arbeit, Selbstjustiz unter den Jugendlichen, Gewalt, sexuellem Missbrauch und grausamen Kollektivbestrafungen. Immer mit dabei: die sozialistische Erziehung. Die Kinder und Jugendlichen müssen sich zu dem politischen System der DDR bekennen. Oft ist der Grund dafür, dass sie überhaupt ins Heim müssen, die fehlende Anpassung an die Vorgaben der DDR-Regierung. Mitunter werden einfach „Verhaltensauffälligkeiten“ als ursächlich genannt. Doch was auch immer der Grund ist, in den Heimen herrschen grausame Regeln. Die Kinder müssen arbeiten, anstatt zur Schule zu gehen. Macht ein Kind einen Fehler oder ist zu langsam, werden alle bestraft – das führt auch zu Gewalt unter den Kindern selbst. Ein Zitat beschreibt, dass ein Kind aus der Familie genommen wurde, weil es dort sexuellen Missbrauch erfahren hat, nur um im Heim dann genau das Gleiche zu erleben. Die Kleidung ist vereinheitlicht, auch andere äußerliche Attribute. Ein Junge mit langen Haaren? Undenkbar. Über Jahre hinweg werden die Kinder drangsaliert. Ein Junge begeht Selbstmord, indem er sich am Fenstergriff erhängt. Die Reaktion des Heims: Die Fenstergriffe werden abgeschraubt.  

    Aus den Heimkindern der DDR sind heute – sofern sie die Schrecken ihrer Kindheit überlebt haben – Erwachsene geworden. Erwachsene, die lernen mussten, mit einem Trauma umzugehen, das einem großen Teil der Gesellschaft nicht einmal bekannt ist. Um das zu ändern, kann der Container von „Blackbox Heimerziehung“ einen Anfang bieten. 

     

    Bilder: Isabella Klose

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