Nie wieder Dolce Vita
In ihrem Dokumentarfilm Vista Mare präsentierten Julia Gutweniger und Florian Kofler auf dem DOK Leipzig einen Film über die Arbeitswelten hinter dem alljährlichen Massentourismus an der Adria.
Für viele Menschen hierzulande steht Italien sinnbildlich für das süße, entspannte Leben. Im Sommer bilden sich lange Autokorsos bis ans Mittelmeer. Die Strände der Luxus- und Freizeitorte füllen sich. Das sich dahinter eine Arbeitswelt von Dienstleistungen verbirgt, in der Menschen aus aller Welt, oft unter prekären Bedingungen, schuften müssen, scheint die Gäste in vielen Fällen nicht zu stören. Zu entspannt ist das All-Inclusive Paket, zu freundlich sind die Angestellten des Hotels.
Dazu braucht es noch nicht mal eine Stimme aus dem Off. Schon in den ersten Minuten des Films werden die Zuschauer*innen mit einer unheimlichen Szenerie konfrontiert. Standbildaufnahmen, Angestellte des Hotels, die in der Frühe den Strand glattstreichen, eine Armada an automatischen Sonnenschirmen, die sich, wie von Zauberhand, alle zur gleichen Zeit öffnen. Das alles verschmilzt zu einem absurden Schauspiel, welches makaber und humorvoll zugleich wirkt. Beispielsweise, wenn die Kamera auf zwei junge Angestellte hält und ganz nebenbei einen Dialog einfängt, indem sich die beiden Männer, mit Sonnenbrillen in Plastikstühlen sitzend, über die Zahl der Strandplätze des benachbarten Hotels unterhalten. Waren das jetzt 197, oder 200? Wes Anderson hätte es nicht besser machen können.
Immer wieder fangen die beiden Regisseur*innen Szenen ein, die zum Nachdenken anregen. Beispielsweise, wenn ein Protest für bessere Arbeitsbedingungen durch die Straßen zieht und sich die Massen langsam an der Kamera vorbeischieben. Nachdem sie vorbeigelaufen sind, bleibt die Kamera stehen, verändert ihre Position nicht. Die Sprechchöre werden leiser, im Hintergrund sieht man Hotelangestellte, die Grünanlagen gießen. Es kehrt Ruhe ein, alles geht weiter wie gewohnt.
In einer anschließenden Q&A-Runde gingen die Regisseur*innen auf Fragen aus dem Publikum ein. Dabei betonten sie, dass sie sich bewusst auf die arbeitenden Personen konzentriert hätten. Die Besitzer*innen der Hotels und Restaurants sind nicht zu sehen. Viele verständen die Aufnahmegenehmigung ihrer Etablissements als Werbechance. Diesen Raum wollten Sie den Profiteur*innen dieses Systems nicht geben. Schwierig wurde es für die beiden, Menschen ohne feste Anstellung vor die Kamera zu bekommen. Zu groß ist die Angst vor den örtlichen Behörden. Als sich dann dennoch eine Person fand, die sie beim Verkauf von Tüchern am Strand begleiten durften, waren sie umso dankbarer.
Den fehlenden Handlungsstrang könnten indes einigen Zuschauer*innen vermissen. Es werden weder Interviews geführt, noch kommentiert eine Stimme das Gesehene. Aus diesem Grund wirkt der Film in erster Linie wie ein Kunstwerk. Egal ob endlose Hotelburgen, auf dem Trampolin springende Fitnesstrainer, oder Animateure, die in Plüschkostümen Besucher*innen unterhalten. Aus der Distanz wirkt das alles gespenstig und beklemmend. Als dann noch Flugzeuge des italienischen Militärs die Nationalfarben in die Luft sprühen, fängt man an, völlig an der Daseinsberechtigung dieser Menschheit zu zweifeln.
Wen es also nicht stört, dass in einem Dokumentarfilm auch einfach mal nur draufgehalten werden darf, dem lege ich Vista Mare wärmstens ans Herz. Trotz seiner Tiefe und seinen beklemmenden Bildern, riefen die Aufnahmen in mir auch so etwas wie eine Urlaubs-Nostalgie und eine Schauerromantik hervor. Vista Mare wird voraussichtlich im Frühjahr 2024 in die deutschen Kinos kommen.
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