Kolumnist*in Jo schreibt über die wechselseitige Beziehung zu den eigenen Eltern, missglückte Versuche der Rebellion und die Neuentdeckung eines verlorengeglaubten Safe Spaces.
Als ich endlich die Zusage für meine Wohnung in Leipzig bekam, hatte ich schon längst einen Plan für meinen Umzug. Meine Kisten mit Büchern, Kleidung und den wichtigsten Gegenständen standen schon seit Wochen gepackt in dem Zimmer, in dem ich achtzehn Jahre meines Lebens gewohnt hatte. An Möbeln wollte ich nur einen ausklappbaren Sessel als provisorisches Bett mitnehmen. Das alles hätte ohne Probleme in mein kleines Auto gepasst, denn ich hatte mir fest vorgenommen, mit meinem Umzug sämtliche Brücken zu meiner Familie, mit der ich zu der Zeit große Probleme hatte, abzubrechen und alles ohne Hilfe durchzuziehen. Ich wollte eigenständig sein, erwachsen werden.
Als mir mein angehender Mitbewohner anbot, seinen alten Kleiderschrank übernehmen zu können, musste ich diesen Plan verwerfen. Sowohl ich als auch er hatten keine Möglichkeit, den Schrank nach Leipzig zu transportieren. Folglich musste ich über meinen Schatten springen und meine Eltern um Hilfe bitten. Ein letztes Mal, so schwor ich mir.
In der Zeit nach dem Umzug mied ich jeden Kontakt zu meinen Eltern. Antwortete nicht auf ihre Nachrichten, vermied es, sie zu besuchen. So mein Vorhaben. Denn auch das gestaltete sich schwierig, da ein großer Teil meines damaligen Freundeskreises noch in meiner alten Heimat wohnte. Daher musste
Seit meiner Flucht nach Leipzig
habe ich einiges gelernt – vor allem über die Menschen, die ich eigentlich hinter mir lassen wollte. Foto: privat
ich zwangsläufig zu meinen Eltern zurückkehren, wenn ich Zeit mit meinen Freunden verbringen wollte.
Generell kann man sagen, dass meine Rebellionen gegen meine Eltern wenig erfolgreich waren. Stets reagierten sie tolerant, auch wenn meine Handlungen einigen ihrer grundlegenden Überzeugungen widersprachen. Dererste große Akt war wohl, dass ich angefangen habe zu rauchen. Ich weiß nicht, warum. Irgendwie ist es dazu gekommen. Vielleicht lag es daran, dass meine Eltern immer etwas dagegen hatten und strikte Nichtraucher sind. Dazu passt auch, dass ich mir Ohrtunnel habe stechen lassen. Als Kind haben mir meine Eltern eingeredet, wie hässlich diese doch seien. Ich jedoch fand sie schon immer sehr ästhetisch und habe der Volljährigkeit entgegengefiebert, um endlich selbst welche zubekommen. Als meine Eltern dann meine Ohrlöcher sahen, waren sie zwar wenig begeistert, doch nahmen sie es ohne großen Protest hin.
Doch meine Rebellion hatte auch seine Grenze: die Angst, eine Enttäuschung zu sein. Die Angst, mit meinem Lebensstil nicht die Erwartungen meiner Eltern zu erfüllen. Die Angst, nicht zu erreichen, was ich mir vornahm. Gerade der Abbruch meines Studiums befeuerte diese Ängste nur noch mehr. Gleichzeitig kam in mir der Wunsch auf, trotz der ständigen Konflikte ein besseres Verhältnis zu meinen Eltern zu haben, um mich ihnen anzuvertrauen.
Mein Mitbewohner sagte mir kurz vor dem Umzug nach Leipzig: „Mit dem physischen Abstand wird das Verhältnis zu den Eltern deutlich besser.“ Damals habe ich ihn für diese Aussage nur belächelt, doch ich musste einsehen, dass er Recht hatte. Es tat tatsächlich gut, sich nicht täglich zu sehen. Es entschärfte Konflikte, die meist dann aufkamen, wenn meine Lebensvorstellungen, mit denen meiner Eltern kollidierten und wir uns durch die räumliche Nähe nicht einfach aus dem Weg gehen konnten. Rückblickend betrachtet kann ich diesen Drang, mich so von meinen Eltern abzukapseln nicht mehr nachvollziehen. Ich wollte raus, raus aus der Enge eines kleinen Kaffs in Sachsen-Anhalt, das mir nun doch wieder wie ein sicherer Rückzugsort erscheint, wenn meine Probleme mit dem Erwachsensein mal wieder zu groß werden. Vor Kurzem habe ich es geschafft, meine Ängste, Probleme und Sorgen gegenüber meinen Eltern anzusprechen. Seit meiner „Flucht nach Leipzig“ ist meine Familie, mit der ich wegen den kleinsten Kleinigkeiten in den Haaren lag, zu einer Art Safe Space geworden.