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  • Schwärmende Erkenntnisse

    Leipziger Nanophysiker konnten autonome Schwarmbildungen an unbelebten Partikeln nachweisen. Zukünftig könnten dank der Nanotechnologie neue Erfolge in der Krebstherapie gemacht werden.

    Wenn die Stare im Herbst den ersten Frosteinbrüchen auf den Feldern entfliehen und wie schwere Wolken über die Dächer der Städte tosen, wirken sie wie ferngesteuerte, hoch koordinierte Einheiten. Solches Schwarmverhalten ist ein weit verbreitetes Phänomen der Biologie. Oft wird es mit Intelligenz assoziiert, doch die Hintergründe der internen Prozesse bei der Schwarmbildung sind wenig verstanden und stützen sich meist auf Modelle.

    Professor Frank Cichos der Universität Leipzig betrachtet das Phänomen aus physikalischer Sicht. Er ist Vorsitzender der Gruppe für molekulare Nanophotonik am Peter-Debye-Institut Leipzig für Physik der weichen Materie. Im Januar veröffentlichte er im Journal Nature Communications gemeinsam mit seinen Co-Autoren Xiangzun Wang, Pin-Chuan Chen, Klaus Kroy und Viktor Holubec die Ergebnisse ihrer Studie zu physikalischen Parametern der Schwarmbildung. Es gelang ihnen nämlich, diese an unbelebter Materie nachzuweisen, nur durch physikalische Wechselwirkungen hervorgerufen.

    Der Versuch

    Die Physiker verwendeten kleine, an der Oberfläche mit Goldnanopartikeln besetzte Plastikteilchen. Im Wasser schwimmend, wurden sie durch einen Laserstrahl an den Goldnanopartikeln erhitzt. Lebewesen nutzen die aus der Nahrung gewonnene chemische Energie um sich fortzubewegen. Dem Plastikteilchen hingegen wird durch die Forschenden Wärmeenergie mithilfe des Laserstrahls zugeführt. Das Teilchen leitet diese an das Wasser weiter, in dem es schwimmt, wodurch ein Vortrieb entsteht. Je nach Eintreffpunkt des Laserstrahles können sie sich gerichtet auf ein Ziel zubewegen.  In dem Versuch war dies ein zweites Teilchen. Unerwarteterweise stellten die Wissenschaftler eine Rotation um das Zielteilchen fest. Der Grund dafür liegt in einer zeitlichen Verzögerung.

    
    

    Der Versuchsaufbau bestehend aus Kamera, Laser und Mikroskop

    Zeitverzögerung ist allgegenwärtig

    Damit ein Partikel durch den Laser erhitzt werden kann, erfolgt eine Aufnahme seiner Position mit einem Mikroskop. Daraufhin wird der Laser von einem Computer ausgerichtet, um die Bestrahlung auszuführen. Professor Chichos vergleicht den Aufbau mit einer Muskelinnervation, wobei das Mikroskop das Auge, der Computer das Gehirn und der Laser die Nervenzelle ist, die den Schwimmer, den Muskel, ansteuert. Von jeder informationsverarbeitenden Stufe zur nächsten gibt es eine Zeitverzögerung, in der sich das Partikel durch mikroskopisch kleine Eigenbewegungen von seiner Startposition wegbewegt, sodass der Laser letztendlich an einer anderen Position als der programmierten eintrifft. Das Resultat ist eine minimal fehlgerichtete Fortbewegung des Schwimmers aufgrund der zeitlichen Verzögerung. Diese ist allgegenwärtig, jedes Bild, das wir sehen, ist zeitverzögert. Bis die Informationen der Augen das Gehirn erreichen, vergehen Bruchteile einer Sekunde, in der wir nicht wissen können, was vor uns passiert. Die meisten Handlungen, die wir ausführen, sind aber dennoch präzise genug, vor allem dank unserem unsagbar schnellen Nervensystem. Erst ab einem bestimmten Schwellenwert der Verzögerung kommt es zum Verfehlen des Ziels. In dem Versuchsaufbau liegt die Zeitverzögerung im Sekundenbereich. Das genügt zwar noch, damit der Laser das Partikel trotz seiner Eigenbewegung trifft, jedoch ist die Ansteuerung nicht mehr so präzise, dass sich das Partikel direkt auf sein Ziel zubewegt. Es verfehlt das Ziel stattdessen leicht und beginnt es bei wiederholten Impulsen  zu umkreisen. Als die Wissenschaftler nun mehrere Schwimmer in das Medium gaben, begannen sie gleichzeitig, in geordneten Strukturen um das Zielpartikel zu rotieren, wie in einem Schwarm.

    Der Mechanismus des Schwarms

    Mikroschwimmer rotieren um das Zielteilchen.

    Ein einzelnes  Teilchen erhält also eine lokale Energiezufuhr durch den Laser und richtet sich neu aus. Gibt man weitere Teilchen dazu, verhalten sich diese in ihrer Rotation wie ein einzelnes Teilchen, durch Wechselwirkungen mit dem Medium und zu anderen Teilchen synchronisieren sie sich und stabilisieren ihre Bewegung. Auch wenn die Wechselwirkungen in lebendigen Schwärmen in erster Linie von den Entscheidungen der Individuen bestimmt sind, schafft der Versuch im unbelebten System, einen ähnlichen, wenn auch weniger komplexen Effekt hervorzurufen. „Letztendlich profitiert das lebendige System eben auch zu einem ausschlaggebenden Teil von physikalischen Prozessen, auf denen es aufbauen kann.”, so Professor Cichos.

    Ein Ausblick in die Nanotechnologie

    Die Chance und treibende Kraft solcher Erkenntnisse sei laut Cichos vor allem, synthetisch  nachzuahmen, was die Biologie schon kann. Ihr Versuch konnte zeigen, dass kollektive Prozesse, wie sie in der Biologie üblich sind, auch an unbelebter Materie hervorrufbar sind. Die Nanotechnologie kann sich solche Erkenntnisse zunutze machen. Nanopartikel haben aufgrund ihrer geringen Größe eine große Oberfläche im Verhältnis zu ihrer Masse. Die spezifischen Oberflächeneigenschaften verschiedener Materialien können so ausgenutzt werden, um gezielte Wechselwirkungen mit der Umwelt oder anderen Partikeln zu erzielen. Künstliche Systeme, zum Beispiel aus Nanorobotern, die sich selbst organisieren und funktionelle Strukturen, ähnlich wie in biologischen Systemen bilden, könnten zukünftig energie- und ressourceneffiziente Lösungen bringen. Schon jetzt gibt es erste Erfolge der Nanotechnologie in der Krebstherapie. So ist es Forschern des National Center for Nanoscience and Technology in Peking, China, bereits 2018 gelungen, Nanopartikel so zu programmieren, dass sie Moleküle transportieren, mit dessen Hilfe die Blutversorgung von Tumoren gehemmt werden kann. Die Nanomedizin könnte es zukünftig ermöglichen, Gewebe und Organe nicht-invasiv zu behandeln.

     

    Fotos: Spontaneous vortex formation by microswimmers with retarded attractions (Wang, Chen, Kroy, Holubec, Cichos)

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