Willst du noch ’nen Zug?
Habe ich 2023 in vollen Zügen genossen? Kolumnisten Toni blickt auf ein Jahr voller Reisen mit der Deutschen Bahn zurück.
Ich bin keine zehn Stunden ins neue Jahr gerutscht, da fiel mein Zug vom Berliner Hauptbahnhof nach Hause aus. Es war Neujahr 2023, doch es fühlte sich nichts neu an – meine Züge schienen so miserabel fort zu fahren, wie sie 2022 zum Stehen kamen. Ich dachte, nach Sturmtief Hendrik, das Deutschland ganzes Zugnetz im November 2022 lahmlegte und den Regios, in die man wegen Überfüllung durch das 9-Euro-Ticket gar nicht erst einsteigen durfte, würde es 2023 bergauf gehen. In meinem Jahr ging es das tatsächlich. Nachdem ich in Spanien das erste Mal so richtig einen Berg hinauf gewandert bin – ich komme aus Mecklenburg-Vorpommern, ich kenne keine Berge – zog es mich kurz danach bergauf über die Alpen bis nach Slowenien, allerdings mit dem Auto.
Seit ich vor zwei Jahren mein Studium begonnen habe, bin ich irgendwie eine Bahnvielfahrerin geworden. Vorher war die Bahn mir eher fern, der dichteste Dorfbahnhof liegt gute 30 Kilometer von Zuhause entfernt – mittlerweile sitze ich in so vielen Fernzügen, dass ich, während ich diese Kolumne schreibe, eine Freifahrt dank meiner 1000 in diesem Jahr gesammelten Bahnbonuspunkte nutze. Zugfahren ist schon irgendwie praktisch, bequem und umweltfreundlich.
Heute nur knappe zehn Minuten Verspätung, ein geändertes Abfahrgleis, hohe Auslastung und eine Umleitung wegen der Hochwasserschäden, sonst läuft alles nach Plan. Mir fährt ein erleichtertes Lächeln übers Gesicht, während ich schließlich einen tiefen Atemzug nehmend auf mein Jahr mit der Deutschen Bahn zurückblicke. Dem Zugausfall vom ersten Januar schloss sich direkt ein weiterer Ausfall vier Tage später meines sonst recht verlässlichen und stets recht leeren IC nach Leipzig an.
Das reichte mir dann eigentlich für 2023, doch mir bahnt sich das Gefühl an, die Deutsche Bahn wirft mich gern aus meinen Plänen raus wie aus einem fahrenden Zug. In vollen Wagen reihten sich Ausfälle neben unzähligen Verspätungen und unerreichbaren Anschlusszügen. Mit unverhofften Stillständen passierten wir erfolgreich Bauarbeiten, Zugreparaturen und Brückenschäden, die zu Wendemanövern führten, sodass wir manchen Halt gleich zweimal erlebten. All den unbefugten Personen auf den Strecken und den Menschen, die vergebens an Bahnhöfen auf mich warteten, geht’s gut – glaube ich jedenfalls. Und ich habe jedem Smalltalk eine lustige Geschichte beizusteuern. Weniger komisch als Gespräche übers Wetter, aber irgendwie auf einer Ebene mit den Leuten, die meinen, eine Konversation starten zu müssen, in dem sie mein Schuhwerk kommentieren. Manchmal bin so wütend, dass ich mir denke: Vielleicht heirate ich später einfach in Crocs! Und mein Brautauto wird der IC 2239.
Nein wirklich, ich hatte ein schönes Jahr. Ich war viel unterwegs, hab‚ viel gesehen. Mein Zug hatte keine Bremsen, Menschen stiegen ein und andere aus. Eigentlich sind die Deutsche Bahn und ich völlig inkompatibel. Ich bin am liebsten überall zehn Minuten zu früh und nehme jeden Halt mit. Die Pünktlichkeitswerte der Deutschen Bahn sanken dieses Jahr mit jedem Monat und getreu dem Wetter erreichten die Fernzüge im November ihren derzeitigen Tiefpunkt. Lediglich 52 Prozent der ICEs und ICs erreichten ihr Ziel nach Angaben der Deutschen Bahn pünktlich, wobei die Pünktlichkeitsstatistik einen Zug erst ab sechs Minuten Verspätung als unpünktlich aufnimmt. Interessanterweise fallen ausgefallene Züge dabei aus der Rechnung komplett raus, wie der Informatiker David Kriesel in seinem Vortrag zur Deutschen Bahn auf dem Chaos Communication Congress 2019 in Leipzig zeigte.
Ich habe dieses Jahr gelernt, dass es gar nicht darauf ankommt, immer einen Plan zu haben und einige Tage zwangen mich, mal auf die Bremse zu treten. Kriesels Erläuterung der [Scheuer/Pofalla]-Wende, die den Zuglauf verkürzt, indem Anfangs- und Endhalte bei ICEs ausfallen, um einen verspäteten Zug auf der Rückfahrt wieder pünktlich zu machen, scheint mir auch übertragen auf andere Lebensbereiche gar nicht so abwegig. Passt doch alles, so wie es ist, ich muss nicht mit Vollgas noch weiterfahren. Und was im Leben ist schon pünktlich?
Bilder: Antonia Bischoff
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