Im Akkord durch die Zeitgeschichte
Noch bis zum 21. Juli läuft die Ausstellung „Hits & Hymen. Klang der Zeitgeschichte“ im Zeitgeschichtlichen Forum und zeigt das Zusammenspiel von Musik und Politik.
Berlin 1988. Menschenmassen quetschen sich in der Radrennbahn Weißensee, viele werden durch dieses Gedränge ohnmächtig. Die FDJ arbeitet in Hochtouren, um nur ein klein wenig die Ordnung zu bewahren. Doch die Stimmung ist mehr als gut. Fahnen und Plakate in den Farben der Vereinigten Staaten von Amerika werden in die Luft gestreckt. Auf den Gesichtern steht der Ausdruck reinster Glückseligkeit geschrieben. Im Zentrum des Geschehens befindet sich ein durchtrainierter, fast 40-jähriger Mann mit einer Gitarre. Auf einer großen Bühne steht er. Eine Bühne, die gar nicht mehr so groß wirkt, wenn man weiß, wer diese Person ist. Eine Stimme wie ein gut geölter Motor klingt durch die Lautsprecher und mindestens 160.000 Menschen rufen zurück: „Born in the U.S.A!“ Ein Hauch von Freiheit weht durch Ost-Berlin, Bruce Springsteen verzaubert die Massen.
Tage wie diese sollten nicht nur in die klangvolle Musikhistorie eingehen. Es sind Tage, die verdeutlichen, dass Musik in ein Geflecht aus Politik und Zeitgeschehen verwoben ist. Denn sie unterhält nicht nur, sie provoziert und pointiert. Klänge berühren unsere Herzen und bewegen die Massen. Musik ist ein Zeugnis der Geschichte. Genau das versucht die Ausstellung „Hits & Hymen. Klang der Zeitgeschichte“ im Zeitgeschichtlichen Forum zu verdeutlichen.
Seit Ende September des vergangenen Jahres können die Besucher*innen dort rund 450 Exponate und Medienstationen bestaunen. Seien es Original-Notizen zum Song „Wind of Change“, Schlagzeugstöcke von „Sportfreunde Stiller“ oder die Fahne eines Fans vom eingangs beschriebenen Springsteen-Konzert. Man kann alte Bravo-Cover mit der jungen Nena sehen und viele Schallplatten oder CDs von echten Klassikern. Und natürlich ertönt aus jeder Ecke Musik, von Rock bis Rap, von Biermann bis Bushido.
Gegliedert in vier Teilbereiche führt die Ausstellung durch ein Duett aus Musik und Politik. In „Musik und Protest“ wird die 1960er Liedermacherszene dargestellt, welche sich gegen das vermeintliche „Establishment“ richtete. Die Musik von Migrant*innen und der künstlerischen Verarbeitungen ihrer Erfahrung in Deutschland wird gezeigt, aber auch, wie die rechtsextreme Szene Musik für die eigenen Ziele verwendet. Ein Highlight ist das Banner mit der Aufschrift „#WIRSINDMEHR“, das 2018 an der Bühne des gleichnamigen Konzerts gegen Rechtsextremismus in Chemnitz hing. Der Themenbereich „Musik macht Staat“ behandelt Nationalhymnen und Militärmusik als Bestandteil staatlicher Repräsentation. Hier kann man auch testen, wie textsicher man eigentlich bei der deutschen Nationalhymne ist. Wie Musik aus dem Westen sich trotz zahlreicher Repressionen seinen Weg in den Ostblock bahnt, wird in „Musik überwindet Grenzen“ dargestellt. Und wer einfach nur in ikonische Musikstücke der Vergangenheit reinhören möchte, kann dies im Bereich „Geschichte macht Musik“ tun. Deutsche Hits, die das damalige Lebensgefühl widerspiegelten, sind auch heute noch aktuell. Nicoles „Ein bißchen Frieden“ lässt grüßen.
Dabei soll Musik nicht nur gehört, sondern auch gefühlt werden. Multimedia-Stationen ermöglichen es gehörlosen Menschen, Hits durch Aufzeichnungen von Gebärdendolmetscher*innen zu sehen und durch spezielle Sitzmöbel ist auch der Beat von vielen Liedern zu spüren. Ins Auge fallen jedoch nicht nur Musikexponate: In einem Mosaik aus unzähligen Zigarettenstummeln porträtiert die Künstlerin Linda Schumann ihre Oma. Dabei wird die Nachkriegszeit thematisiert, in der viele Dinge des alltäglichen Lebens wie Zigaretten rationiert wurden. Der „Kippenboogie“ wurde zu einem Hit: „Das ist der Kippenboogie, Kämel oder Lucki, die Länge ist egal, wir kippen noch einmal.“ Vor allem Frauen sammelten Zigarettenstummel vom Boden auf. Damit ihnen das die Laune nicht verdarb, sangen sie eben dieses Lied.
Der Besuch dieser Ausstellung ist wie ein Tanz auf einem übergroßen Klavier: Egal wo man hingeht, sind die verschiedensten Klänge nicht fern und es besteht die akuteste Ohrwurm-Gefahr. Wer also ein dünnes Nervenkostüm hat, sollte der Ausstellung eher fernbleiben. Doch für alle, die ein Faible für echte Klassiker der Musikgeschichte haben oder einfach eine kleine Zeitreise erleben möchten, ist die Wanderausstellung ein Muss.
Blicken wir zurück nach Berlin. Gleich wird Springsteen „Chimes of Freedom“ von Bob Dylan zum Besten geben. Doch zuvor spricht er Worte, die in die Geschichte eingehen sollten. Ja, die vielleicht sogar Geschichte machten. „Es ist gut, in Ost-Berlin zu sein. Ich bin hier nicht für oder gegen irgendeine Regierung. Ich bin gekommen, um für euch Rock’n’Roll zu spielen, für euch Ost-Berliner, in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren umgerissen werden.“
16 Monate später sollte die Berliner Mauer fallen. Gewiss hat auch dieser Abend auf der Radrennbahn eine nicht unbedeutende Rolle gespielt.
Titelbild: Alexander Schmidt/punctum
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