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  • Endstation Berlin

    „Natürlich kann man hier nicht leben“ ist mehr als ein plattes Statement. Das Romandebüt von Özge Inan ist niemandem etwas schuldig.

    Gehen oder bleiben? Eine Frage, die wahrscheinlich auch die größte Provinzmaus irgendwann einmal beschäftigt. So auch die 15-jährige Nilay – allerdings nicht in einem kleinen Kaff, sondern in der Hauptstadt Berlin. Ihre Eltern, die vor zwanzig Jahren noch linke Aktivist*innen inmitten der politischen Turbulenzen im türkischen Izmir waren, hängen heute vor dem Fernseher und verfolgen die 2013er Gezi-Proteste in der Türkei von ihrem Wohnzimmer aus. Das passt Nilay überhaupt nicht. 

    Sie sitzt auf glühenden Kohlen und will nach Istanbul: dabei sein, bei den Aufständen helfen, an die sie glaubt. Ihr Bruder Emre ist weniger begeistert, schließlich hätten ihre Eltern die Türkei nicht zum Spaß verlassen. „Ich habe sie nicht darum gebeten“, widerspricht Nilay. Sie kämpft mit dem Rassismus und der Entfremdung, die sie in Deutschland erlebt. 

    In ihrem Romandebüt „Natürlich kann man hier nicht leben“, das letztes Jahr bei Piper erschienen ist, springt die Journalistin Özge Inan von diesem Berlin im Jahr 2013 zurück in die Türkei der 80er und 90er Jahre. Sie erzählt, wie sich in der Stadt Izmir die Wege von Nilays Eltern Selim und Hülya kreuzen. Ganz nebenbei folgt der Roman den zwei jungen Revolutionär*innen durch das politische Chaos in ihrem Leben genauso wie durch eine unbeschwerte Uni-Zeit. Die Leser*innen sehen dabei zu, wie Selim und Hülya die Lebensentscheidungen treffen, die ihre Tochter Nilay zur Berlinerin machen werden. 

    Dabei geht es teils sehr heftig zu: die jungen Erwachsenen werden von Rechten zusammengeschlagen, verraten und erleben Polizeigewalt. Messerscharf gibt Özge Inan die politischen Stimmungen in und außerhalb der Familien und Freundschaften wieder – subtil, mit all ihren Verstrickungen und Widersprüchen. 

    Der Roman „Natürlich kann man hier nicht leben“ spricht für sich und muss nichts erklären. Denn er setzt nur ein wenig Empathie voraus. Ob Izmir eigentlich eine lebenswerte Stadt für Nilays Eltern gewesen wäre, kann die*der Leser*in nicht entscheiden, kann die Tochter nicht entscheiden. Denn Hülya und Selim haben schon entschieden. Ihre Geschichte ist der große Vorspann zur eigentlichen Wahl, die am Ende Nilay über ihr Leben in Deutschland treffen wird. 

     

    Grafik: Sara Wolkers

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