„Altern ist politisch“
Didier Eribon war am 21. März zu Gast im Schauspiel Leipzig und sprach mit Vanessa Vu über seine Neuerscheinung „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“.
Wer ist hier der eigentliche „Star“? Diese Frage ist bei einer Lesung, bei der Didier Eribon links und rechts die Golden Globe- sowie oscarnominierte Schauspielerin Sandra Hüller auf der Bühne Platz nimmt, nicht ganz leicht zu beantworten. Aber eigentlich geht es an diesem Abend um das neue Werk Eribons. Genauso wie das Vorgängerbuch „Rückkehr nach Reims“ ist „Eine Arbeiterin“ eine zutiefst persönliche Erfahrung. Dieses Mal wird die Geschichte von Eribons Mutter erzählt.
Sie lebte in einer unglücklichen Ehe. Der Tod ihres Mannes war eine Befreiung für sie. Eribon spricht von ungleichen Machtverhältnissen und vom Abschaffen der Ehe. Betont gleichzeitig, dass er sich paradoxerweise für die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe eingesetzt habe. Nach dem Tod ihres Mannes verliebte sich Eribons Mutter neu. Der Autor spricht davon, dass: „Liebe und Altsein, ein Thema ist, das gesellschaftlich überwiegend tabuisiert ist“. Die neue Liebe habe seiner Mutter Kraft gegeben und ihr Leben verlängert, so Eribon.
Doch irgendwann geht es zu Hause nicht mehr und sie geht in ein Altersheim. Etwas Endgültiges. Quasi „das Warten auf den Tod“, so Eribon. Auch wenn darüber, wie über so vieles im Alter, nicht gesprochen wird. Nachts hinterlässt die Mutter Nachrichten auf Eribons Anrufbeantworter und klagt darüber, sie dürfe nicht duschen. Der Sohn spricht mit einer Ärztin. Es gibt nicht genug Personal, um häufiger als einmal in der Woche zu duschen. Schließlich braucht es zwei kräftige Mitarbeitende dafür. Die Situation ist eine politische, auch wenn es Eribons Mutter nicht weiß. Und wirft die Frage auf: Wer hat die Möglichkeit, in der Gesellschaft zu sprechen und sich zu organisieren?
Früher, als die Mutter arbeitete, war sie in der Gewerkschaft CGT aktiv. Ein Gewerkschaftsbund, der einst der kommunistischen Partei nahestand. Es gab Streiks und Arbeitskämpfe. Die Mutter war politisches Subjekt. Irgendwann später, als sie das Ende ihres Arbeitslebens erreichte, wählte sie die rechtsextreme Partei Front National. Doch im Altersheim gibt es keine Möglichkeit der Organisierung. Die einzige Möglichkeit, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, sind die hinterlassenen Nachrichten auf Eribons Anrufbeantworter und der seiner Brüder. Eribon betont, dass das Thema Altern mit 20 zu weit weg ist, um sich damit zu beschäftigen, ab 50 ist man zu nah dran und möchte sich nicht mit solch traurigen Themen beschäftigen. Später geht es nicht mehr. Weiter meint Eribon: „die abwesende Stimme der alten Menschen muss gehört werden.“
Nach knapp eineinhalb Stunden Gespräch, übersetzt von Luisa Fenn, inklusive drei von Sandra Hüller gelesener Textausschnitte beendet Vanessa Vu den Abend. Doch bevor alle die Bühne verlassen, nutzt Eribon den Moment, um mittels seines Smartphones „heimlich“ ein Foto von Hüller am anderen Ende der Bühne zu machen. Es stellt sich die Frage, wer hier der eigentliche Star ist, denn ohne ein Foto von Hüller wollte Eribon anscheinend nicht nach Hause gehen.
Titelbild: Schauspiel Leipzig
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