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  • 15 Jahre außerhalb der Komfortzone

    Die ehemalige Gefängnisinsassin und geniale Pianistin Jenny schwankt in 15 Jahre zwischen dem Glauben zu Gott und dem Glauben an die Rache.

    „Solange du lebst, verschwende dich“ wirkt wie das Leitmotiv in Chris Kraus‘ Fortsetzung des Films Vier Minuten (2007). Jenny (Hannah Herzsprung) wurde einst zu einer begnadeten Pianistin mit Aussicht auf Weltruhm erzogen dann das Drama einer Tötung. Seit dem Absitzen ihrer fälschlichen Inhaftierung aufgrund eines nicht von ihr begangenen Mordes wohnt und arbeitet sie in einer diakonischen Einrichtung, verdient ihr Geld als Raumpflegerin und versucht, dem christlichen Glauben zu folgen. Ihre Erinnerungen an die Vergangenheit holen sie aber immer wieder ein und äußern sich in Gewalt. Als ihre große Jugendliebe (Albrecht Schuch) und der eigentliche Täter in ihrem Leben als berühmter Popstar unter dem Namen Gimmiemore erneut auftaucht, werden viele Vorsätze gekippt und Rachegedanken lassen ihre musikalische Begabung wieder aufleben. Gemeinsam mit Omar (Hassan Akkouch), einem Musiker, geflüchtet aus Syrien, welcher im Krieg nicht nur seine Familie zurücklassen musste, sondern auch körperliche Schäden erlitten hat, nimmt sie an der Castingshow „Unicorn“ für Menschen mit Beeinträchtigungen teil. Einerseits, um das hohe Preisgeld zu gewinnen, andererseits um Gimmiemore mit seinen Taten zu konfrontieren und Rache zu üben, denn dieser ist das Gesicht und Jurymitglied von „Unicorn“. Zwischen Omar und Jenny entspinnt während all dieser Ereignisse eine emotionale Zuneigung, die ähnlich der Handlung sich in einem dynamischen auf und ab bewegt. Wie die kurze Beschreibung schon vermuten lässt, passiert in den 144 Minuten sehr viel.  

    Man sieht die Schauspielerin Hannah Herzsprung in ihrer Rolle als Jenny. Sie putzt gerade ein Fenster und schaut in die Leere. Hinter ihr sieht man zwei Kolleginnen.

    Hannah Herzsprung als Jenny

    Im Vergleich zu seinem Vorgängerfilm Vier Minuten, der wie ein Kammerspiel aufgebaut ist und die Beziehung ruhig und kraftvoll aus der Perspektive von Jenny und ihrer Klavierlehrerin im Gefängnis betrachtet, laufen in 15 Jahre viele Erzählstränge parallel. Leerstellen und Lücken, die den Vorläuferfilm interessant machten und das Publikum zum Nachdenken anregten, sind nun gefüllt – alles, was subtil mitschwingen könnte, wurde in 15 Jahre überdeutlich ausgesprochen. Diesmal muss man zwar nicht ungeduldig auf die Handlung warten, leider bleibt deswegen auch nicht genug Zeit für den nötigen Tiefgang. Das liegt nicht nur an der überbordenden Ereigniskette, sondern auch an der stereotypisierenden Darstellung mancher Figuren. Wolke (Stefanie Reinsperger), ebenfalls ehemalige Gefängnisinsassin und Kollegin von Jenny, gibt die geläuterte Mörderin und gute Christin, die plakativ eine Schafsfellweste trägt. So auch die Gastfamilie Omars, die ihren eigenen Apfelsaft im Haus mit Garten produziert und mit ihrer liebevoll naiven Art im Kontrast zum Rest, das Klischee des deutschen Spießbürgertums verkörpert.

    Auf der Farbfotografie sind Jenny (Hannah Herzsprung) und Omar (Hassan Akkouch) zu sehen, die nebeneinander an einer grauen Mauer gelehnt stehen. Jenny raucht eine Zigarette und schaut auf den Boden, ihre Haare fallen in ihr Gesicht und bedecken die Hälfte. Omar schaut sie eindringlich an.

    Jenny und Omar

    Eindeutig arbeitet 15 Jahre im Genre der Dramödie mit Humor und Optimismus. Die Inszenierung der Hauptfigur Jenny und Hannah Herzsprungs schauspielerische Leistung brechen allerdings das gewohnte Bild und machen den Film spannend. Sie agiert nicht den Erwartungen entsprechend, sondern bringt das Publikum durch destruktives Handeln weg vom Vertrauten, ins Mitfiebern. Die Dialoge mit ihr sind zeitweise erfrischend direkt und schlagen einem ins Gesicht. Sie ist die Antiheldin: Gerade, weil sie irrational handelt, bewundert man sie für ihre Stärke und ihren Mut. Chris Kraus lässt sich von der Lebensrealität inspirieren: Omars Geschichte ist angelehnt an den syrischen Musiker Aeham Ahmad, der sein Klavier in Kriegsgebiete transportierte, um den Menschen Musik zu bringen. Vielleicht ist die optimistische Herangehensweise des geflüchteten Mannes, der trotz aller erlebten Grausamkeiten hoffnungsvoll und energetisch einen neuen Lebensabschnitt beginnt, also eine gar nicht so abwegige, aber eine Castingshow hätte es dazu nicht gebraucht. Wer Vier Minuten noch nicht gesehen hat, sollte dies nachholen und vielleicht auf die Fortsetzung verzichten, wie das so oft mit Fortsetzungen ist.  

     

    Bilder: © Dor Film-West, Four Minutes Filmproduktion, Wild Bunch Germany

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