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  • Kafka für Eilige

    Das Neue Schauspiel Leipzig schenkt Kafka zum 100. Todestag ein Theaterstück, das alle seiner großen Hits vereint.

    „Das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen.“ So beschreibt die Mutter „Odradek“, eine seltsame Gestalt, die sprechen und sich bewegen kann, aber keinen erkennbaren Regeln zu folgen, weder Sinn noch Ziel zu haben scheint. Gestalt und Zitat stammen aus der Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“. Darin gestaltet sich Kafkas Frage nach dem Sinn, die sich durch das ganze Stück zieht – von der unbegründeten, unerklärten Verhaftung am Anfang bis hin zum Ende des Hungerkünstlers. 

    Mit „Mein Schatten ist in dieser Welt tatsächlich allzu groß“ will das Neue Schauspiel Kafkas 100. Todestag feiern, der auf den 3. Juni dieses Jahres fällt. Dafür spielt sich vor einem effektiven, minimalistischen Bühnenbild – bestehend nur aus Bett, Tisch und Kleiderschrank – der dreißigste Geburtstag des Kafka-Charakters Josef K. ab. In Kurzfassung geistern alle möglichen Personen und Charaktere aus Kafkas Werk und Leben durch den Raum. 

    Wie der Titel, der aus Kafkas Tagebucheintrag vom 29. Januar 1922 stammt, schon andeutet, lebt „Mein Schatten ist in dieser Welt tatsächlich allzu groß“ von wörtlichen Zitaten. Der Großteil des Textes ist mehr oder weniger direkt Kafkas Werken entnommen. Das ist die Stärke des Stücks, denn auch nach hundert Jahren schwingen Kafkas Worte mit einer unvergleichlichen Eindringlichkeit und Schönheit, wie sie wenige Schriftsteller*innen erreicht haben. Die Schauspieler*innen füllen diese Worte mit Leben und heben sie aus der oft für trocken gehaltenen Lektüre auf die Bühne. 

    Portraitfoto von Franz Kafka.

    Franz Kafka im Jahr 1923, nicht lange vor seinem Tod. Foto: Wikimedia Commons

    In kürzester Zeit wird ein Kafka-Hit nach dem anderen durchgespielt. Wer im Deutschunterricht aufgepasst hat, erkennt Elemente aus „Der Prozess“, „Der Hungerkünstler“, „Die Verwandlung“, „In der Strafkolonie“, Kafkas Tagebüchern und Briefen und weiteren Werken. Wer im Unterricht nicht aufgepasst hat, morgen eine Kafka-Klausur schreibt und es dementsprechend eilig hat, kann den Inhalt hier in 100 Minuten nachholen – vorausgesetzt, man kommt mit. 

    Dass die Handlung durch die vielen Elemente überladen ist, scheint recht selbstverständlich. Einen richtigen Plot sucht man eher vergeblich, stattdessen folgen Szenen aus verschiedenen Werken aufeinander, kombiniert mit Ereignissen aus Kafkas Privatleben. Dem Stück kommt zugute, dass die meisten von Kafkas Werken Variationen über sehr ähnliche Themen sind – so lassen sich trotz der bunten Mischung Verbindungen herstellen, emotional gibt es also durchaus rote Fäden. Büro und Bett gehen ineinander über, Schwester und Freundin werden von der gleichen Schauspielerin dargestellt, Vater, Chef und Gesetz sind gleichsam unerreichbar und undurchsichtig. Über allem schwebt die Frage nach dem Sinn in einer Welt, die sich nach undurchsichtigen Gesetzen gestaltet. 

    Dennoch fühlt es sich etwas erzwungen an, als nach all den anderen bekannten Werken schließlich auch noch die Parabel „Vor dem Gesetz“ wiedergegeben wird. Es will sich nicht so ganz das Gefühl einstellen, das Kafkas eigene Plots ausmacht – eben „sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen“. Die prototypische Kafka-Geschichte ist ein Möbiusband: in ihrer Substanz einfach, doch man kann ihr endlos folgen, ohne zu einem Schluss zu kommen. Dem Stück gelingt das nicht, dafür reihen sich zu viele Elemente unterschiedlicher Art aneinander.  

    Julia Nesswetha steht in der Mitte der Bühne. Im Hintergrund ein Mann am Tisch.

    Milena (Julia Nesswetha) und ihr Schatten. Foto: emg

    Beeindruckend dagegen sind die vielfältigen Emotionen, die die Performance der Schauspieler*innen transportiert. Besonders glänzt die Performance von Alina Antonov, die die Rolle der Mutter spielt und das Stück gemeinsam mit Regisseur Felix Kerkhoff arrangiert hat. Kostüm und Maske von Nele Sternberg und Eleanor Großhennig sowie das Bühnenbild von Markus Czygan tragen einen Großteil der Effekte des Stücks, vom minimalistischen Krankenzimmer bis hin zu absurd gestalteten Odradeks, die auf die Wände klettern.  

    Es gibt wohl niemanden im Publikum, der schlussendlich nicht mitgenommen ist vom Ende des Hungerkünstlers – auch hier wird wieder direkt aus der Kurzgeschichte zitiert: „Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders, … weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“ Die Erzählung vom Hungerkünstler schrieb Kafka am Ende seines Lebens, als er aufgrund von Krankheit keine Nahrung mehr zu sich nehmen konnte. Sie war eins seiner letzten Werke, bevor er am 3. Juni 1924 verstarb. 

    „Mein Schatten ist in dieser Welt tatsächlich allzu groß“ feierte am 15. Mai im Neuen Schauspiel Leipzig Premiere und wird weiterhin am 22.05., 25.05., 30.05., 31.05. und 01.06. aufgeführt werden. 

     

    Titelbild: emg

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