„An Rändern“ von Angelo Tijssens
Der flämische Drehbuchautor Angelo Tijssens schlägt mit seinem Romandebüt „An Rändern“ Wellen an die Küste Flanderns - die Kulisse einer Geschichte von queerer Liebe und Kindheitstrauma.
Inhaltswarnung: Im folgenden Text wird sexueller Missbrauch thematisiert.
Vor Jahren war Meener zuletzt in seiner Heimat, einem schmucklosen Urlaubsort an der niederländischen Küste. Als er von dem Tod seiner Mutter hört, kehrt er zurück. Mit dieser Rückkehr kommen jedoch auch die schmerzhaften Erinnerungen seiner Kindheit und die Sehnsucht nach seiner Jugendliebe zurück.
In einem Spiel von Ich- und Du-Ansprachen des Erzählers zieht Angelo Tijssens die Lesenden mit seinem Roman „An Rändern“ in die intensive Gefühlswelt des Protagonisten. Traumatische Rückblenden aus der vergangenen Kindheit mit einer gewaltvollen und alkoholkranken Mutter und sexuellem Missbrauch des Jungen erklären nach und nach das scheue Verhalten des erwachsenen Mannes in der Gegenwart. Mit schrecklich nüchternen Worten schreibt Tijssens von den Erinnerungen eines Kindes an eine Vergewaltigung: „Der Bauch sank vor dem Jungen auf die Knie und während er ihm einen blies, suchte seine Hand (er hatte eine Rose auf den Handrücken tätowiert) den Bund meiner Badehose, grapschte.“ Die Verletzlichkeit und der Schmerz des Protagonisten füllen die Seiten, ohne dass von ihnen je die Rede ist. Tijssens Roman spielt „An Rändern“ – und das in vielerlei Hinsicht. Der Junge wächst mit seinem Schicksal am Rande der Gesellschaft auf. Die Kulisse des niederländischen Ferienorts scheint nicht nur an der Küste zu sein, sondern auch am Rande der Welt. Das Seitenlayout greift das Thema mit Textkörpern angeschmiegt an die Ränder der Buchseiten auf.
Bei seiner Rückkehr sucht Meener seine Jugendliebe wieder auf. Für die Liebe der beiden jungen Männer hatte es nie Platz gegeben. Als Meener seinem Heimatort und seiner Mutter vor Jahren in die Stadt entfloh, blieb ihre Beziehung unausgesprochen. Auch wenn sie einander wieder nahekommen, bleibt eine Kluft. „Ich bleibe, wo ich bin, ein altes Sofa und eine Welt zwischen uns.“ Nie schaffte es einer der beiden, die tiefe Zuneigung zwischen ihnen zu benennen. Die Einsamkeit und den Schmerz um ihre verlorene Liebe betäubt Meener mit unverbindlichen Hook-ups.
Tijssens erzählt die Geschichte eines misshandelten Kindes, dass sich nie jemandem anvertrauen konnte, und Narben einer Kindheit, die nicht zu überwinden sind. Der Protagonist schweigt über das erlebte Trauma, um sich zu schützen. Genauso schweigt er auch über die Zuneigung zu einem anderen Mann und verbaut sich damit seine Chance auf Glück. Mit simplen Worten und viel Gefühl wird deutlich: Meener kann es nicht aussprechen, weder den Schmerz noch die Liebe und trotzdem ist da ein Roman voller Hoffnung auf gemeinsames Glück.
Angelo Tijssens schafft es mit einem sehr schlanken Roman, die Lesenden berührend authentisch in die Gefühlswelt eines jungen Menschen eintauchen zu lassen. Die Geschichte eines jungen schwulen Mannes, der aus seinem kleinen Heimatort in die große Stadt flieht, erinnert dabei stellenweise an Édouard Louis‘ Roman „Anleitung ein anderer zu werden“. Die Rückblenden in die zerrüttete Kindheit zeigen mit aller Härte, wie ein junger queerer Mensch in der Kleinstadt zu einem verletzten Erwachsenen am Rande der Gesellschaft heranwachsen kann.
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