Wirtschaftspolitisch links, gesellschaftspolitisch gespalten
Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi haben zum ersten Mal seit Wagenknechts Abspaltung von der Linken Leipzig besucht. Was eint und unterscheidet ihre Parteien?
Lange waren Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi zwei der bekanntesten Gesichter der Partei Die Linke. Nachdem Wagenknecht innerhalb der Partei mehr und mehr zur polarisierenden Person wurde, trat sie 2023 schließlich aus der Linken aus und gab die Gründung ihrer eigenen Partei bekannt: „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW). In diesem Jahr tritt BSW erstmals bei der Europawahl an.
Im Rahmen des Wahlkampfes für die Europawahl haben sowohl Wagenknecht als auch Gysi Leipzig besucht. Wagenknecht trat am 4. Juni am Richard-Wagner-Platz auf, Gysi am 6. Juni. An beiden Tagen waren die Reihen vor der Bühne gefüllt und die Stimmung gut: Sonnenschein, Musik zwischen den Redebeiträgen, Wagenknecht und Gysi wurden beide oft von Applaus unterbrochen. Das Publikum unterschied sich auf den ersten Blick kaum, der Altersdurchschnitt war bei der Veranstaltung der Linken insgesamt etwas jünger. Neben den groß beworbenen „Stars“ sprachen weitere Parteimitglieder und Wahlkandidat*innen, zum Beispiel der BSW Spitzenkandidat für die Europawahl Fabio De Masi (ehemals Die Linke) und die Linken-Kandidatin Carola Rackete.
BSW setzt sich zu großen Teilen aus ehemaligen Abgeordneten der Linken zusammen, distanziert sich jedoch politisch von dieser. Anhand der beiden Reden sowie der Wahlprogramme und Wahlomat-Positionierungen der beiden Parteien vergleichen wir ihre Positionen zu zentralen politischen Themen.
Sozialpolitik
Der Kampf gegen Armut und soziale Ungleichheit war ein zentrales Thema beider Redner*innen. Vor allem die Notwendigkeit einer Entprivatisierung des Gesundheitssystems steht für beide Parteien im Mittelpunkt. Ein Krankenhaus müsse sich laut Gysi nicht in erster Linie rechnen, sondern in erster Linie für Gesundheit sorgen. Die Möglichkeit, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen, dürfe in keinem Fall eine finanzielle Frage bleiben. Wagenknecht kritisierte ebenfalls lange Wartezeiten auf Facharzttermine und Überforderung der Krankenpflege. Sie betonte außerdem das Versagen des Gesundheitsministers Lauterbach, der die Schließungen von Krankenhäusern mit der Krankenhausreform noch beschleunigt habe.
Auch Forderungen nach einem gerechteren Rentensystem betonten sowohl Wagenknecht als auch Gysi mehrfach. „Fünf Millionen Rentnerinnen und Renter leben in Armut – das wird ihren Leistungen mitnichten gerecht“, sagte Gysi. Und Wagenknecht forderte: „Schluss mit den Armutsrenten!“
Die linke Sozialpolitik – Einstehen gegen die Superreichen und für eine Umverteilung von oben nach unten – eint die zwei Parteien. Eine derart ungleiche Vermögensverteilung wie die in Deutschland könne nach Gysi mit dem Leistungsprinzip nicht mehr erklärt werden und müsse beendet werden. Er ergänzte: „Die Linke kämpft immer gegen Armut. Wichtig ist aber auch der Kampf für den Mittelstand. Denn wenn es die Mitte nicht mehr gibt, kann sie nicht mehr für die unten eintreten.“
Russland/Ukraine
Das große Thema bei beiden Veranstaltungen waren Krieg und Frieden, insbesondere der Krieg in der Ukraine und Deutschlands Rolle dabei. Die Linke und BSW sind beide gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sowie allgemein gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und wollen stattdessen eine diplomatische Lösung fördern. Sowohl Gysi als auch Wagenknecht distanzierten sich in ihren Reden deutlich von der Außenpolitik der aktuellen Regierung. Wagenknecht sprach davon, dass eine Ausweitung des Krieges absehbar sei, in der Deutschland durch die aktuelle Politik zur Kriegspartei werde.
Außerdem betonten beide Redner*innen die Doppelmoral des Westens, in der Kriegsverbrechen abhängig vom Land selektiv verurteilt würden. So meinte Gysi: „Der Westen dachte, dass es ihm zusteht die Welt zu beherrschen, und weil sie das dachten, haben sie angefangen das Völkerrecht zu missachten.“ Dabei bezog er sich auf die Rolle der USA und NATO bei den Kriegen in Serbien, Irak und Kosovo. Er betonte die Wichtigkeit internationaler Zusammenhänge und die Verschiebung von Machtverhältnissen in der Welt, bei der inzwischen nicht mehr der Westen das einzige Machtzentrum sei.
Wagenknecht sprach ebenfalls in diesem Kontext explizit die USA an: „Jeder Politiker, der einen Krieg beginnt, ist für mich ein Verbrecher, aber das gilt nicht nur für den Mann im Kreml; das gilt auch für all die US-Präsidenten, die in der Vergangenheit Kriege begonnen haben.“
Gysi und Die Linke verurteilen deutlich den Angriff Russlands auf die Ukraine und bezeichnen Russland als den Aggressor. Ebenso ist Die Linke laut Wahlomat-Angaben gegen eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland, solange Russland seine Angriffe auf ukrainisches Territorium fortführt.
BSW dagegen ist für eine Aufhebung der Sanktionen: Diese hätten Deutschland mehr geschadet als Russland. Wagenknecht bezeichnete in der Rede einen „Wirtschaftskrieg“ gegen Russland als sinnlos. Russisches Gas würde durch klimaschädliche Ressourcen wie Fracking-Gas ersetzt, und außerdem beziehe Deutschland weiterhin russisches Gas, das über einen Umweg durch Drittstaaten wie Indien teurer importiert werde.
Bereits im März 2022, als Wagenknecht noch Mitglied der Linken war, kam es zur öffentlichen Auseinandersetzung zwischen ihr und Gysi. Wagenknecht unterschrieb damals mit anderen Mitgliedern der Linken eine Erklärung, die die NATO für den Konflikt in der Ukraine mitverantwortlich machte. Gysi hielt dagegen, dass die NATO in diesem Fall keinen Fehler begangen habe, der den russischen Krieg rechtfertige. Aufgrund dieses und weiterer Vorfälle wurde Wagenknecht schon häufig Nähe zu Russland und Unterstützung der russischen Regierung vorgeworfen, während Die Linke sich in ihrem aktuellen Programm explizit davon distanziert und den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt.
Nahostkonflikt
Sowohl Gysi als auch Wagenknechts Spitzenkandidat De Masi sprachen sich gegen Waffenlieferungen nach Israel aus. Gysi ging in seiner Rede detaillierter darauf ein. Er verurteilte den Angriff der Hamas vom 7. Oktober und forderte eine Freilassung der Geiseln. Er sprach jedoch auch über das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza und sagte, man dürfe nicht ein Kriegsverbrechen mit einem anderen Kriegsverbrechen bekämpfen. Für eine Lösung des Konfliktes sei es notwendig, den Staat Palästina anzuerkennen, deshalb forderte er, dass Deutschland sich den anderen Ländern anschließt, die dies in der letzten Zeit getan haben. Sahra Wagenknecht hat in der Vergangenheit ebenfalls die Kriegsführung der israelischen Regierung kritisiert, eine Position des BSW zum Staat Palästina ist aber bisher nicht bekannt.
Verhältnis zur EU
Das Wahlprogramm der BSW beschreibt die aktuelle Struktur und Politik der EU mit Begriffen wie „kafkaesk ausufernde EU-Regelungswut“ und „abgehobene Politik ferner, demokratisch kaum kontrollierter EU-Technokraten“, die „viele Menschen zurecht [sic] als Angriff auf die Demokratie und als Bedrohung für ihre Kultur und Identität“ empfänden. Die verstärkte Integration Europas habe sich als Irrweg erwiesen, die Souveränität der Mitgliedstaaten sollte stattdessen gestärkt werden. Im Gegensatz zur Linken ist BSW auch gegen die Erhebung von eigenen Steuern durch die EU. Stark euroskeptische Positionen wie zum Beispiel die Befürwortung der Einführung einer nationalen Währung statt des Euros vertritt BSW jedoch nicht.
Die Linke dagegen unterstützt die Erhebung von Steuern durch die EU und die direkte Wahl des Präsidenten oder der Präsidentin der EU-Kommission durch EU-Bürger*innen. BSW ist zu letzterem neutral. Gysi sprach sich in seiner Rede für eine europäische Integration Europas aus, die sich auf kultureller Ebene abspielen solle statt nur auf militärischer und wirtschaftlicher. Bezüglich der gemeinsamen europäischen Polizeibehörde Europol ist Die Linke gegen die Erweiterung ihrer Befugnisse, BSW ist zu diesem Punkt ebenfalls neutral.
Außerdem betonte Gysi die Wichtigkeit von internationaler Zusammenarbeit im Allgemeinen: Auch wenn die Globalisierung vielen Angst mache, ließen sich viele Probleme nur international lösen, nicht national. Insgesamt tendiert BSW also stärker zu einer Konzentration auf nationale Strukturen als Die Linke, die auch auf die internationale Zusammenarbeit Wert legt.
Verhältnis zur AfD und Einordnung des Rechtsruckes
Der nationale und europäische Rechtsruck kam bei beiden Veranstaltungen zur Sprache. Wagenknecht und Gysi betonten beide die Verantwortung der aktuellen Regierung am Erstarken der AfD. Gysi sagte, die Wahl der AfD sei noch immer nicht nur das Befürworten der AfD, sondern vor allem eine Ablehnung der etablierten Parteien. Die Regierung solle sich weniger fragen, weshalb die AfD gewählt wird und sich stattdessen fragen, was sie falsch machen. Es brauche weniger akademische Sprache, mehr Aufrichtigkeit und Authentizität in der Politik, um das Misstrauen ihr gegenüber abzubauen. Gysi zeigte sich besorgt und betonte, wie wichtig es nun sei, wirklich nachhaltige soziale Politik zu betreiben, um dem voranschreitenden Rechtsruck etwas entgegenzusetzen.
BSW versucht, sich von der AfD abzugrenzen. In ihrer Rede sagte Wagenknecht: „Die AfD hat in ihren Reihen Neonazis und Rechtsextremisten und einen Spitzenkandidaten für die Europawahl, der die SS für eine honorige Organisation hält.“ Die Nähe zur AfD, die ihr in der Vergangenheit aufgrund ähnlicher Positionen zu Migration und Flucht wiederholt vorgeworfen wurde, hat Wagenknecht immer wieder abgestritten.
Hier ist jedoch ein entscheidender Unterschied zwischen der Linken und BSW zu benennen: Sie nutzen verschiedene Feindbilder. Das von Gysi bediente Narrativ ist das klassische linke, von den vereinten unteren 99 Prozent, dem Zusammenschluss der ärmeren Bevölkerung und des Mittelstandes – gegen das obere eine Prozent, gegen die „Superreichen“. Das Feindbild, das Wagenknecht zeichnet, sind die „Selbstgerechten“, die Grünen, die Großstadt, ist die „Wokeness“. Mit diesem Narrativ gegen Progressivität, gegen einen „immer enger werdenden Meinungskorridor“ und gegen den „Maulkorb statt Meinung“, nähert sie sich deutlich dem Populismus rechts-konservativer Kräfte an.
Migrations- und Fluchtpolitik
Migration und Flucht waren schon vor der Abspaltung des BSW lange ein Konfliktthema zwischen Wagenknecht und anderen Mitgliedern der Linken. Die Linke vertritt traditionell eine Politik offener Grenzen, für Migration sowie die unbegrenzte Aufnahme von Geflüchteten, Wagenknecht fiel mit der Zeit durch zunehmende Kritik an diesen Prinzipien auf. Ihre Positionierung für die Begrenzung von Einwanderung und Aufnahme von Geflüchteten brachte ihr vor dem Parteiaustritt viel Kritik innerhalb der Linken ein. Dementsprechend sind Migrations- und Fluchtpolitik Punkte, in denen sich die BSW stark von der Linken unterscheidet.
Wagenknecht schlug in ihrer Rede klare Töne an: Man müsse die „unkontrollierte Migration endlich in den Griff bekommen“, die Integration sei gescheitert und „Parallelgesellschaften“ seien entstanden. Speziell bezeichnete sie den „radikalen Islamismus“ als Problem und ging dabei auf den Vorfall in Mannheim vom 31. Mai ein, bei dem ein in Deutschland lebender afghanischer Staatsbürger mehrere Menschen angegriffen und einen Polizisten tödlich verletzt hatte. Einer ihrer Vorredner sagte, „Begrenzung und Steuerung der Migration“ seien notwendig. BSW stellt sich auch gegen die Anwerbung von Fachkräften aus anderen Ländern, unter anderem mit der Begründung, dass dadurch den Herkunftsländern Fachkräfte entzogen würden. Die Linke dagegen unterstützt eine vereinfachte Einwanderungen von Fachkräften in die EU.
Den zweiten Listenplatz der linken Kandidat*innen für die Europawahl nimmt Carola Rackete ein, die für ihren Klimaaktivismus und Einsatz in der Seenotrettung bekannt ist. Mit Bezug darauf sagte Gysi in seiner Rede, die Rettung von Menschenleben im Mittelmeer sei eine „moralische Pflicht“.
Klima
Die Klimakrise wird in beiden Reden nicht als zentraler Wahlkampfpunkt thematisiert, doch Klimapolitik ist ein weiteres Thema, bei dem BSW sich deutlich von der Linken distanziert hat. BSW lehnt eine bedeutende Zahl verschiedener Klimaschutzmaßnahmen ab, vor allem mit der Begründung, dass sie ärmere Menschen und kleine Unternehmen übermäßig belasten. „Wir brauchen eine Re-Industrialisierung Europas, die Arbeitsplätze und Wohlstand zurück bringt, statt einer Energie- und Sanktionspoplitik, die Europa weiter zurück wirft und dazu führt, dass die Europäer im Großkonflikt zwischen den USA und China zerrieben werden“, heißt es im Wahlprogramm. Im Gegensatz zu Die Linke befürwortet BSW die Neuzulassung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren auch nach 2035, ist gegen verpflichtende Photovoltaikanlagen bei Neubauten und positioniert sich dagegen, dass Unternehmen in der EU mehr für den Ausstoß von CO₂ zahlen sollten. In ihrer Rede beschrieb Wagenknecht eine Energiewende zwar als „vernünftig“, ging aber nicht darauf ein, wie sie umgesetzt werden könnte.
Die Linke dagegen fordert mehr Klimaschutz. Gysi machte Klimapolitik ebenfalls nicht zum Mittelpunkt seiner Rede – Armutsbekämpfung und Friedenspolitik waren die Themen, die den meisten Raum einnahmen. Er positionierte sich allerdings sehr deutlich für „mehr ökologische Nachhaltigkeit“. Dabei dürfe der soziale Ausgleich niemals vergessen werden. „Wenn ein Braunkohlewerk geschlossen wird, brauchen die Leute mehr als Arbeitslosengeld und danach Bürgergeld“, sagte er. Carola Rackete, die vor Gysi sprach, adressierte die Klimakrise klar als linkes Thema. Sie verlangte, Vermögensabgaben für einen Fond zum sozialökologischen Umbau, so dass „diejenigen bezahlen müssen, die es auch verursacht haben – Multimillionäre und Konzerne.“
Fazit
Die Abspaltung von ihrer ehemaligen Partei kam bei der Rede Wagenknechts nicht zur Sprache. Und Gysi hielt sich zurück, „will zum BSW nicht so viel sagen.“ Doch es genügten einige wenige Sätze, um seine Position deutlich zu machen: „Ich bin ja auch eitel, aber so eitel, eine Partei nach mir zu benennen, bin ich nicht.“ Er sagte auch, dass der Versuch, konservative Politk wie die CDU und Sozialpolitik wie die Linken zu betreiben, auf Dauer nicht funktionieren könne.
Der Politikwissenschaftler Philipp Thomeczek ordnet BSW als links-konservativ und als populistische Partei ein. In gewissen Punkten teilt es sich Positionen und Feindbilder mit rechts-konservativen Kräften. Vor allem Einstellungen zu Migrations- und Klimapolitik unterscheiden Die Linke und BSW fundamental voneinander. Wagenknechts Partei besetzt also eine neue Nische im deutschen Wahlsystem und ist damit eine große Unbekannte bei den aktuellen und kommenden Wahlen. Welche und wie viele Wähler*innen sie auf Dauer anziehen wird und wie sie sich im Parlament tatsächlich politisch ausrichten wird, bleibt vorerst schwer abzuschätzen.
Titelbild: Gregor Gysi, Benjamin Zibner
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