• Menü
  • Sport
  • Kolumne
  • Zeit, dass sich was dreht

    In weniger als einer Woche startet die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Das Turnier kommt zur rechten Zeit, findet Kolumnist Eric.

    „Wer jetzt nicht lebt, wird nichts erleben. Bei wem jetzt nichts geht, bei dem geht was verkehrt“ – so beginnt Herbert Grönemeyers Single „Zeit, dass sich was dreht“, die er zusammen mit dem aus Mali stammenden Duo Amadou und Mariam sang. Das Lied betont die Notwendigkeit von Veränderung und Handeln im Leben und war zeitgleich auch die offizielle Hymne für die Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Heute, 18 Jahre später, ist die Single aktueller denn je. Zum einen findet mit der Europameisterschaft wieder ein großes Fußballturnier in Deutschland statt, zum anderen hat sich die Stimmung in den letzten Jahren zunehmend ins Negative gewandelt. Es gilt: Nicht nur das runde Leder muss sich drehen, sondern auch unser Umgang miteinander.  

    Sommertraum… 

    Ich bin ein Sportfanatiker, das kann ich nicht leugnen. Sport bestimmt einen Großteil meines Lebens, ich könnte stundenlang über Sportthemen reden. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass sich internationale Sportereignisse für mich wie eine fünfte Jahreszeit anfühlen. Auch dieser Sommer 2024 ist nun wahrlich ein echter Sportsommer. Am vergangenen Freitag ist unter anderem die Leichtathletik-EM in Rom gestartet und Ende Juli beginnt die Olympia in Paris. Aber das Highlight bleibt für mich die diesjährige Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land. 

    Neben 2006 fanden auch 1974 sowie 1988 zwei große Fußballturniere in Deutschland statt. 1974 wurde man gar Weltmeister, wenn auch die Erinnerungen weniger bunt und unbeschwert sind, stand das Turnier noch im Zeichen des Terror-Attentats auf die israelische Olympia-Mannschaft 1972 in München. 1988 musste sich das DFB-Team im Halbfinale gegen die Niederlande geschlagen geben. Das Turnier wurde dabei auch von Schlägereien verfeindeter Hooligans in Düsseldorf überschattet, der Fußball zeigte hier seine hässliche Fratze.  

    Im Vergleich dazu war die Weltmeisterschaft 2006 ein reiner Erfolg, auch wenn im Nachhinein die Kritik an der Vergabe und vor allem an der Person Franz Beckenbauer das Bild dieses Turniers kennzeichnete. Dennoch erlebten viele Fans einen der vielleicht besten Fußball-Sommer (Danke, Franz!), weshalb sie gerne an diese Weltmeisterschaft zurückdenken. Leichtigkeit, Offenheit und eine Partystimmung haben Deutschland ein positives Image beschert. Deutschland war „schwarz-rot-geil“.  

    Bewusst kann ich mich an diesen Sommer nicht erinnern. Damals war ich drei Jahre alt und ich bin nicht in einem Haushalt aufgewachsen, in dem man Kleinkinder schon mit einem Deutschland-Trikot ausstattet. Kurzum: Ich wurde nie zum Fußball „gedrängt“, sodass die Liebe vergleichsweise spät entstanden ist. So ist mir auch die EM 2008, wo sich Deutschland im Finale gegen Spanien geschlagen geben musste, kaum präsent. Konkret werden die Erinnerungen erst mit der Weltmeisterschaft 2010, als eine junge deutsche Mannschaft die Welt begeisterte. Zu der Zeit war ich mit meiner Familie im Urlaub und ich weiß noch gut, wie im Garten der Nachbarn Leute vor einem Spiel Deutschlands selbst gegen den Ball traten. Grillgeruch lag in der Luft, gelegentliche Jubelschreie erfüllten die sonstige Ruhe in einem kleinen Ort an der Ostsee.  

    Porträtfoto des Autors. Er trägt das Deutschland-Trikot von 1990 und hält den Spielball der EM 2024 in der rechten Hand.

    Die EM kann kommen!

    Zwei Jahre später war es dann endgültig um mich geschehen. Lukas Podolski war mein erster Lieblingsspieler in der DFB-Elf. Schmerzlich erinnere ich mich an die Titelseiten der Tageszeitungen am Tag nach dem verlorenen Halbfinale gegen Italien, auf denen ein jubelnder Mario Balotelli als der Zerstörer deutscher Titelträume zu sehen war. 2014 wurden die deutschen Fußballfans mit dem Weltmeistertitel mehr als entschädigt. Mit meinem Kumpel habe ich damals stundenlang im Garten gekickt, nur unterbrochen durch gelegentliche Trinkpausen, wo Coca-Cola in den Dosen mit Spielernamen getrunken wurde. Verwandte und Bekannte haben von meinen Eltern den Auftrag bekommen, fleißig beim Rewe einkaufen zu gehen, um für mich die Fußballkarten zu sammeln, die es bei jedem Einkauf pro zehn Euro Einkaufswert gratis gab. Ich weiß noch, wie stolz ich am Tag nach dem gewonnenen Finale in die Schule ging und mich generell fragte, warum überhaupt Schule sein musste. Waren wir nicht Weltmeister?  

    Danach wurden die Glücksmomente mit der Nationalmannschaft seltener. Klar, da war noch die Europameisterschaft 2016, wo man gegen Frankreich erst im Halbfinale ausschied. Ich habe die irre Abwehraktion von Jérôme Boateng im Kopf, als dieser im ersten Gruppenspiel gegen die Ukraine noch auf der Torlinie den Gegentreffer verhinderte und höre noch immer die Jubelschreie von mir und meiner Familie, als Jonas Hector den entscheidenden Elfmeter im Viertelfinale gegen Italien verwandelte.  

    Danach erzeugte die Nationalmannschaft jedoch nicht mehr die gleiche emotionale Bindung wie vorher. Die DFB-Elf wirkte zunehmend abgehobener, der Slogan „Die Mannschaft“ steht nur sinnbildlich dafür. Man hat nicht mehr erkannt, für welchen Fußball das Team überhaupt stehen sollte, es wurde mehr Fußball verwaltet als gespielt. Ich schaute zwar weiterhin jedes Spiel, sammelte auch 2018 noch fleißig Panini-Sticker und studierte vor jeder EM oder WM das Kicker-Sonderheft, doch nach dem frühen Ausscheiden der DFB-Elf bei den drei Turnieren nach 2016 war schnell die Luft raus. Den weiteren Turnierverlauf verfolgte ich nur noch sporadisch, zu tief saß der Stachel der Niederlage. Vor allem sehnte ich mich nach dem Anpfiff in der Bundesliga und dem gewohnten Rhythmus des Vereinsfußballs.  

    Vielleicht ist es das Gefühl, etwas verpasst zu haben und deshalb etwas nachholen zu müssen. Jedenfalls habe ich lange nicht mehr eine solche Vorfreude auf ein Turnier verspürt. Ich kann regelrecht an nichts mehr anderes denken und nerve mit meiner Euphorie regelrecht meine Mitmenschen (die luhze-Redaktion kann ein Lied davon singen). Für mich steht fest: Wir können uns auf den Sommer freuen – denn es wird Zeit, dass sich was dreht.   

    … oder Albtraum? 

    Zugegeben: Vor allem die Vergleiche mit dem „Sommermärchen“ 2006 nerven langsam. Die Zeiten sind andere, nicht nur im Sport. Deutschland und Europa erleben in vielen Teilen der Gesellschaft einen Rechtsruck, die Feindlichkeit zu Personen mit Migrationshintergrund ist stark angestiegen.  Gedankengut, dass die stärkere Rückbesinnung auf das Nationale betont, breitet sich immer mehr in der Mitte der Gesellschaft aus. Es ist ein Gift mit der Aufschrift „Deutschland zuerst“, Abschottung statt internationaler Verständigung.  

    Diese Problematik betrifft auch den Umgang als Fan. Kehren wir über die Plattform Fußball wieder zu einer Erhöhung der eigenen Nation zurück? Bin ich gleich ein Nationalist, wenn ich auf der Fanmeile in den Nationalfarben erscheine und mit Inbrunst die deutsche Nationalhymne singe? Kommt man nur noch mit dem pinken Auswärtstrikot der DFB-Elf nicht in den Verdacht, ein verkappter Nazi zu sein? Der Grat ist schmal, zumal man nie weiß, ob ein Fan die deutsche Nationalmannschaft rein unter party-patriotischen Gesichtspunkten anfeuert oder den Fußball tatsächlich für rechte Ideologien missbraucht. Dass ich kein Nationalist oder Rassist bin, wissen nur ich selbst und die Leute, die mich kennen. Weiß es auch eine wildfremde Person, die meine Deutschlandfahne im Fenster sieht? Möglicherweise werden weit weniger Menschen die deutsche Flagge schwenken als 2006. Wie es der Philosoph Wolfram Eilenberger im „Kicker“ ausdrückte, zeige dies, „dass Formen von Patriotismus von der Rechten so usurpiert werden, dass wir uns gar nicht mehr zu diesen Symbolen bekennen können, ohne in Sackgassen der Vereindeutigung zu laufen“.  

    Dieses Heimturnier wird kein „Sommermärchen 2.0“. Vielleicht ist das auch gut so, denn sonst würde man einem Ideal hinterherlaufen, das man versucht, zwanghaft wiederaufleben zu lassen. Das heißt jedoch nicht, dass wir uns nicht auf ein Fußballfest freuen dürfen – denn schließlich ist es Zeit, dass sich was dreht.  

    Träumen lohnt sich 

    Schon vor der neuen Aufbruchstimmung durch den Trainerwechsel glaubte ich fest an ein kleines Fußballmärchen für Deutschland. Diesen Optimismus trüben auch nicht die beiden jüngsten Testspiele gegen die Ukraine oder Griechenland, die phasenweise echt nicht gut waren. Trotzdem halte ich es hiermit schriftlich fest: Deutschland wird Europameister! 

    Natürlich wird diese Europameisterschaft nicht die Spaltung der Gesellschaft aufheben und das „Freund-Feind-Denken“, das sich sowohl rechts als auch links im Parteienspektrum etabliert hat, auflösen. Auch nach dem Turnier wird der politische „Dialog“ stark verbesserungswürdig bleiben. Sport ist keine Medizin für gesellschaftliche Probleme. Man kann mit ihm weder den Frieden in Europa wiederherstellen noch die Klimakatastrophe abwenden, sei diese EM noch so nachhaltig. Das konnte der Sport noch nie und wird er auch nie können. Es geht erst mal nur um den sportlichen Wettkampf und um die Spannung, die man dabei erlebt, die Freude und die Trauer. Es sind Emotionen, die dieser Sport entfachen kann und existierende Konflikte ein wenig vergessen machen. Das heißt nicht, dass der Fußball ein völlig unpolitischer Raum bleiben soll. Doch er sollte nicht nur von politischen Konflikten bestimmt werden. Dann glaube ich nämlich nicht nur an den sportlichen Erfolg, sondern auch, dass dieses Turnier uns in Deutschland und Europa wenigstens für eine kurze Zeit zusammenbringt, eben durch die „magische Kraft“ des Sports. Klingt ein bisschen pathetisch und ist es vielleicht auch. Doch irgendwie habe ich das Gefühl: Es wird sich etwas drehen.

    Träumen darf man ja.  

     

    Fotos: privat

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

    Verwandte Artikel

    Fußball, Vernunft und Weihnachtsstimmung

    Das Verhältnis zur Fußball-Weltmeisterschaft in Katar ist für Kolumnist Eric ambivalent. Warum es ihm schwerfällt, sich mit diesem Turnier anzufreunden.

    Kolumne | 13. November 2022

    Europameister im Doppel der Moral

    Kolumnist Dennis findet es nicht nachvollziehbar, dass sich alle an Ungarn abarbeiten, obwohl es beim Thema Gleichstellung hierzulande genügend Nachholbedarf gibt.

    Kolumne | 27. Juni 2021