Probier’s mal mit Gemütlichkeit
Kolumnistin Henni hinterfragt die rasante Terminplanung in ihrem Umfeld.
Mein Zug kommt in zehn Minuten. Wenn ich jetzt losfahre, habe ich sieben Minuten für den Weg und drei, um mit meinem Fahrrad die Rolltreppen zur S-Bahn hinunterzusprinten. Perfekt, dann bin ich genau da, wenn der Zug abfährt. Perfekt, um es in sieben Minuten zum Bahnhof zu schaffen, nehme ich einfach auch die roten Ampeln. Perfekt, wenn dann schon alle Sitzplätze belegt sind, kann ich es noch schaffen, mich in die letzte Ecke zu zwingen.
Es hat überhandgenommen. Nämlich zu dem Zeitpunkt, wo sich die Einhaltung jeglicher Zeit zu einer Herausforderung entwickelt hat. Meine „Auf den letzten Drücker“-Mentalität erreicht mittlerweile endgültig zivilgesellschaftliche und persönliche Grenzen. Denn es sollte wohl nicht normal sein, vor Klausuren nur noch vier Stunden zu schlafen. Und auch nicht, dass man keinen Weg mehr antreten kann, ohne von panischen Mittfünfzigern aus dem Auto angeschrien zu werden, weil sie denken, sie seien haarscharf ihrem ersten Verkehrsopfer entkommen.
Schon zu Schulzeiten neigte ich dazu, Pflichten und Termine mit etwas Verzug anzugehen und hatte keine Tendenz zu zeitlichen Puffern – so, dass die verbleibende Zeit genau genügte, um noch alle Aufgaben zu erfüllen. Da saß man dann drei Tage vor dem Vortrag und begann Plakat, Power-Point und Handout vorzubereiten, sodass man die Karteikarten am Vorabend gerade so noch ein paar Mal aufgeregt seiner Mutter vortragen konnte.
Doch mit den Jahren habe ich festgestellt: Da geht noch mehr! Sobald die Zeit nämlich so knapp wird, dass die Dinge kaum noch rechtzeitig zu schaffen sinnt, beginnt man eine gewisse Angst zu entwickeln, die maximale Effizienz in mir hervorbringt. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, viele Dinge unter ein wenig Zeitdruck zu erledigen, passt erdenklich viel in einen Tag, sodass mein Kalender zuletzt hin und wieder zu explodieren drohte und ich mit vielen Zeiten in Bedrängnis geriet – Abgabefristen, persönliche Zielsetzungen, Absprachen mit Freunden et cetera.
Dass diese „Auf den letzten Drücker“-Mentalität nicht normal ist, stellte ich vor Kurzem wieder fest, als ich meiner Oma in ihrer niedersächsischen Kleinstadt einen Besuch abstattete. Sie wartete eine Stunde, bevor mein Zug hätte ankommen sollen, am Gleis auf mich und führte noch ein paar Gespräche. Mich erwartete ein anderer Umgang mit Zeit, ein gemütlicher. Kulturschock – denn in Leipzig überwiegt in meinem Umfeld eher die Anzahl an Menschen, denen es ähnlich geht wie mir. Bei denen Eile ebenfalls die Pläne bestimmt und Zuspätkommen die deutsche Pünktlichkeit erweitert. Als ich meine Oma anrief, dass ich aus bekannten DB-Gründen drei Stunden später kommen würde, reagierte sie, nachdem sie mittlerweile schon zwei Stunden am Bahnhof verbracht hatte, mit absoluter Gelassenheit und meinte, dass sie die dann vielleicht lieber nach Hause ginge, um dort auf mich zu warten. Ich war ihr Event des Tages und so ließ sie sich von nichts stressen.
Während ich meist noch in anderen Aktivitäten und Plänen stecke oder Zeit verplempere, weil ich denke, es wäre noch nicht spät genug, mich auf den Weg zu machen, geht sie einfach schon mal los, schürt Vorfreude, plant Zwischenfälle ein und dass sie auf den Wegen erfreuliche Ablenkungen erwarten.
Es gibt Tage und Phasen, da ist Tempo erstrebenswert. Da genieße ich einen mit Aufgaben und Ereignissen zubombardierten Tag. Für meinen Geschmack muss es nicht immer gemütlich sein. Doch in letzter Zeit steigen mir die Sprints vielleicht etwas über den Kopf. Alles fühlt sich viel kürzer an. Ständig beklage ich mich darüber, dass alles so schnell an mir vorbeiziehe. Wer sich Zeit nimmt, der kann denken, wahrnehmen, reflektieren, genießen. Wer sprintet, sprintet. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass mir das letzte halbe Jahr viel Intensität durch meine ständige Eile verloren ging.
Hiermit appelliere ich also an mich und euch gehetzte Zuspätkommer und -macher, vielleicht doch mal wieder etwas Zeit zum Wahrnehmen, Auskosten und Gutmachen einzuplanen und vielleicht nicht immer alles in einen Tag zu quetschen, was möglich ist.
Passend zu diesem Vorhaben reiche ich meine Kolumne natürlich auch mal wieder: auf den letzten Drücker ein, weil ich vorher keine Zeit gefunden habe.
Foto: privat
Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.